Fünf Kopeken
Nacht bliebe, was sie sich aber doch bitte noch mal gut überlegen solle.
Mein Großvater rannte von Zimmer zu Zimmer und zog die Nägel aus der Wand, damit die neuen Besitzer nicht auf die Idee kamen, sie bekämen was geschenkt. Meine Mutter würde in die kleine Wohnung über dem Laden ziehen, die mein Großvater ein paar Jahre zuvor für die Fahrer hatte bauen lassen.
Sie freute sich darauf. Oder sagte das zumindest. Glaubte es ganz sicher auch. Und alle glaubten es ihr. Aber ihr Mut war für den Kampf, alleine leben zu dürfen, schon verbraucht. Zum tatsächlich Alleineleben war nichts mehr übrig. Sie wollte stark sein, so sehr, dass sie nicht wusste, wie das geht, schwach sein. Sich einsam und hilflos zu fühlen, das ertragen. Und es letztlich auch nicht lernen sollte.
Aber das konnte meine Großmutter natürlich nicht wissen, als sie zum Abschied ein solches Theater abzog, dass die Schäfer Marie noch die ganze Woche damit auf Tour ging. Sie spulte das volle Programm ab, Wimmern, Keuchen, Luftzufächeln, Schwächeanfall auf dem Weg zum Auto. Mit vereinten Kräften musste sie die Treppe hinuntergezogen werden, während sie erneut ihren Tod ankündigte; eine Mutter von ihrem Kind zu trennen, da könne man ihr ja auch gleich den rechten Arm abhacken, Herrgottimhimmel, mein Herz.
Meinem Großvater war das alles herzlich schnuppe. Vor Vorfreude konnte er kaum noch gerade kucken. Eine der gerade noch rechtzeitig eingetroffenen Schneider-Schirmmützen auf dem Kopf, saß er hinterm Steuer und hupte im Dreivierteltakt. »Wenn wir warten, bis dein griechischer Chor eintrifft, kommen wir heute gar nicht mehr los«, rief er, woraufhin meine Großmutter sich schluchzend in das Sprungtuch aus hilfsbreit hinter ihr aufgespannten Armen fallen ließ. Kurz vor der Autotür verweigerte sie schließlich ganz die Mithilfe und warf sich auf ihr »Ein und Alles«, während zwischen ihren Lippen Laute hervorkrochen, wie sie meine Mutter nur von einer rolligen Katze kannte.
»Na lass mal gut sein, Hilde«, fasste sich endlich der Helm ein Herz und schob meine Großmutter in den Wagen. Er selbst hatte in den vergangenen Monaten so viel Zeit mit meinem Großvater über Bau- und Geschäftsplänen gebrütet, dass er dessen Euphorie bisweilen für seine eigene hielt. In der Bank war man seinem Kündigungswunsch derart verständnisvoll nachgekommen, dass er eh keinen von denen mehr leiden konnte. Außerdem freute er sich auf Max, der, nachdem beim letzten Heimatbesuch die Frage, was er eigentlich mit seinem Leben anzustellen gedenke, wieder nicht zur Zufriedenheit aller hatte beantwortet werden können, seit Monaten keine Mitfahrgelegenheit nach Hause mehr gefunden hatte.
Von der anderen Seite zog Ilse, eigentlich nur zum Winken gekommen, jetzt aber völlig von der Aufgabe beseelt, meiner Großmutter das bisschen Weisheit aufzudrängen, das sie ihrem eigenen kleinen Leben abgerungen hatte; für jede Tür, die sich schließt, öffnet sich eine neue, Abschied ist immer ein wenig Sterben, man muss eine Fliege verlieren, um einen Fisch zu gewinnen, et al.
»Jetzt aber mal los!«, rief mein Großvater. Der Helm rannte außenrum, drückte vor Übermut selbst auf die Hupe und setzte sich dann doch auf die Rückbank, weil der Beifahrersitz so voll mit Taschen war, dass er nicht mehr reinpasste. Ilse wünschte ihnen zum x-ten Mal eine gute Fahrt und einen noch besseren Start ins neue Leben, den sie »garantiert« hätten, das fühle sie einfach, wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Und zuletzt trottete auch Gundl hinterher, quetschte sich neben die beiden andern und schaute mit Todeszellenkandidatenmiene aus dem Fenster. Sie wollte nicht weg von ihrem Vater und den Freundinnen und dem Gemecker über das Leben am Arsch der Welt. Aber die Einzige, die das wusste, war meine Großmutter.
»Red doch mit Helm«, hatte die noch einen allerallerletzten Versuch gewagt. »Du musst ihm sagen, dass du nicht nach Berlin willst!«
Das könne sie ihm nie antun, hatte die Gundl geantwortet. »Liever ded isch dod umfalle, als moinem Mann in de Rücke falle.« Also tat sie genau das. Obwohl sie wie immer spät dran war. Sie waren schon an Eisenach vorbei, als sie sich plötzlich an die Brust fasste und leise stöhnte, was eigentlich gar nicht ihre Art war. Das Leise, nicht das Stöhnen. Mein Großvater raste an zwei Ausfahrten vorbei, bevor er das Geschrei meiner Großmutter ernst nahm. Als sie Gundl vor der Notaufnahme aus dem Auto zogen, war sie schon
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