Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
Vom Netzwerk:
schlimmer traf es sie, als die Schwäche auf einmal mitten in ihrem Leben auftauchte und einfach nicht mehr ging. Jeden Morgen wurde meine Mutter noch vor Sonnenaufgang von ihr geweckt. Sie drückte sich das Kissen auf den Hinterkopf, versuchte sie zu ignorieren, aber die Schwäche gab nicht nach, bis meine Mutter dem Wimmern und Schnaufen und Husten ins Schlafzimmer ihrer Eltern folgte, wo meine Großmutter sich die Lunge aus dem Hals keuchte. Sie rang nach Luft, während meine Mutter ihr den Rücken streichelte, presste die Hände vor den Mund, um meinen Großvater nicht zu wecken  – was natürlich zwecklos war, weil sich niemand in meiner Familie eine Chance, noch weniger Schlaf zu kriegen, hätte entgehen lassen  –, lief endlich aus dem Zimmer, um im Flur weiterzukeuchen, dafür aber so laut, dass man glauben konnte, ein alter Traktor rattere über Kopfsteinpflaster. Die Nächte wurden immer kürzer, die Morgen, an denen sie sich alle mit verquollenen Augen ansahen, immer länger. Am Frühstückstisch gähnte mein Großvater so ausgiebig, dass meine Großmutter vor Schuldgefühlen erst leise in ihren Kaffee weinte, dann, wenn er die Tränen mit keinem Wort erwähnte und einfach ins Büro stapfte, zu schluchzen begann, ihm, nachdem sie sich einige Stunden vollends in ihr Elend hineingesteigert hatte, nachlief und händeringend Entschuldigungen stotterte, die er doch tatsächlich widerspruchslos annahm, woraufhin sie sich so alleingelassen mit ihrem Leid und überhaupt unverstanden, unbeachtet und ungeliebt fühlte, dass der nächste Anfall auf den Fuß folgte.
    Sie dürfe sich nicht so aufregen, sagte der Kasanfreund, über was sich meine Großmutter ganz fürchterlich aufregte. Er gab ihr einen Inhalator, mit dem sie sich bei jeder Gelegenheit in den Mund schoss, und das half ein bisschen, wobei das hübsche, zischende Geräusch, bei dessen Ertönen den Zuschauern der Kopf mitleidig auf die Schulter kippte, mindestens ebenso viel dazu beitrug wie das Aerosol. Aber um wie früher die Geschäftspartner meines Großvaters zu besuchen, geschweige denn Gäste zu bewirten, fehlte ihr die Kraft. Sie schaffte es kaum noch in einer Tour vom Bäcker zum Metzger. Den Großteil des Tages verbrachte sie auf einem Liegestuhl im Garten, die Beine in eine Decke gehüllt, und nippte an einem Tee mit Honig. Nur ganz langsam ging es ihr besser.
    Und meinem Großvater in rasendem Tempo schlechter.
    Es war das erste Mal, dass die Kluft zwischen ihnen unübersehbar aufriss. Rastlosigkeit war immer die Grundlage ihrer Beziehung gewesen. Außer der Angst vorm Stehenbleiben verband sie nur die schiere Dauer ihrer Ehe. Das war genug, damit mein Großvater sich verpflichtet fühlte, den liebenden Gatten zu geben, der »natürlich nicht!« ohne sie ausging. Aber zu wenig, um die Leere in ihm zu füllen.
    Wie ein Alkoholiker, der nach 20 Jahren zum ersten Mal nüchtern ist und sich entgeistert in seiner Welt umsieht, stellte er fest, dass er sich mit seiner Frau nicht unterhalten konnte. Die unappetitliche Unterwürfigkeit, die ewigen Klagen, das ganze weinerliche Vibrato, das er bei all der Rennerei bis dato nie wirklich wahrgenommen hatte, begannen ihn jetzt wahnsinnig zu nerven. Und er zeigte es, schnauzte sie immer öfter an, manchmal allein wegen der Art, wie sie ihn ansah.
    »Ich hab dir doch nix getan«, schniefte sie, was ihn nur noch mehr aufregte, damit natürlich auch sie, sodass er schließlich flüchtete. Ein paar Monate versuchte er, die gewonnenen Stunden mit Arbeit vollzustopfen. Doch selbst die war irgendwann gemacht. Er geisterte durch den Laden, suchte nach schlecht gefalteten Oberteilen, rückte Kleiderständer herum, schlug die Zeit tot, und die Zeit schlug zurück. Seine Falten wurden tiefer, die Brauen länger, heller, bis der Unterschied zu dem künstlichen Felldeckel auf seinem Kopf kaum noch zu übersehen war. Er wurde alt. Er fühlte sich alt. Er langweilte sich. Er brauchte eine neue Herausforderung, einen dieser glücklichen Winke des Schicksals, an die er leider nicht glaubte.
    Aber das Glück fand ihn trotzdem, in Gestalt eines untersetzten Juweliers, den mein Großvater, wie könnte es anders sein, aus Kasan kannte, der Quelle alles Guten in seinem Leben. Damals ein milchgesichtiger Hänfling, der sich jeden Abend erst in den Schlaf geweint und dann, unter heftigem Quietschen seines Feldbetts »Annie, meine süße Annie« stöhnend, die anderen aus dem ihren gerissen hatte, war er mittlerweile zu einem

Weitere Kostenlose Bücher