Fünf Kopeken
schlimmsten Fall verlöre sie mehrere Semester …
»Aber dann wären wir wenigstens zusammen!«, rief meine Großmutter.
Mein Großvater setzte sein Glas ab. »Wie viele Semester?«
»Ich weiß nicht«, sagte meine Mutter leise, »vielleicht drei.«
»Was spielt denn das für eine Rolle?«, rief meine Großmutter und widmete sich wieder ganz ihrem eigenen Schock. »Sie kann doch nicht alleine hierbleiben.«
»Maaama«, sagte meine Mutter.
»Was?«, schrie meine Großmutter, und: »Oskar, das Kind kann doch nicht alleine hierbleiben! Jetzt sag doch was!«
Aber mein Großvater sagte nichts mehr.
Zwei Tage nicht.
Kein Wort. Weder zu meiner Mutter noch zu meiner Großmutter, auch wenn die ja eigentlich gar nichts verbrochen hatte. Aber wenn man schon mal am Fasten ist, macht man ja nicht ausgerechnet für einen Teller Leber eine Ausnahme.
Dann ließ er meine Mutter eines Nachmittags in sein Büro zitieren.
»Kommen wir gleich zur Sache«, sagte er und begann von seinem Urgroßvater mütterlicher-, nein väterlicherseits zu erzählen, vielleicht auch Großonkel, von dem es jedenfalls heiße, dass er während der Wanderschaft, Schreiner, eines Nachts sein letztes Stück Käse gegen eine verlotterte Bibel eingetauscht habe, nicht etwa aus religiösen Gründen, au contraire , sondern vielmehr, um sich damit selbst das Lesen beizubringen. Es folgte ein Abstecher zu dessen Kindern, Volksschullehrer der eine, immerhin Gattin eines Rechtsanwaltsgehilfen die andere, von wo aus mein Großvater mit riesen Schritten durch die von Zeugnissen der Wissbegier nur so strotzende Familiengeschichte eilte, vorbei an der Schneider-Oma, die ganz allein nach Marbach geradelt war, um Schillers Geburtshaus zu sehen, bis hin zu seinem eigenen Vater, der seine Söhne bekanntlich als Erste im Dorf! aufs Gymnasium geschickt habe, »was damals weder normal noch billig war.«
»Wenn bei den Schneiders etwas groß geschrieben wird, dann Bildung«, rief er feierlich, an welchem Punkt meine Mutter kurz davor war, einzuwerfen, dass das eigentlich nicht nur bei den Schneiders, sondern überall im deutschsprachigen Raum so sei, dann aber doch mit wachsender Verwirrung zuhörte, wie er ihr erklärte, dass das Niveau in Heidelberg dem in Berlin, wie er erfahren habe, bei Weitem überlegen sei, dass ihr durch einen Wechsel des Studienorts beträchtliche Nachteile entstünden. Dass durch das Konstrukt des Föderalstaats die eine Universität nicht wisse, was die andere tue, und man ihr einen Großteil der Scheine wohl gar nicht anerkennen würde, dass sie womöglich Jahre verlieren würde. Weshalb er sich überlegt habe, dass es das Beste sei, wenn sie erstmal hierbliebe.
»Er sich!«, rief meine Mutter, » er !«, und strampelte die Decke von den Beinen, während sie nach ihrem Wasserglas griff, »lieber hätt’ er sich die Zunge abgebissen als zuzugeben, dass mal ein anderer Recht hat«, und dabei schwappte es aus ihrem Glas, das ihr vor Aufregung gegen den Nachttisch stieß, so wütend wurde sie, wahrscheinlich vor allem deswegen, weil sie es damals nicht geworden war. Da hatte sie nämlich keinen Ton herausgebracht. Nicht mal die Augen gerollt. Nur verständig genickt hatte sie und am Ende »ja, natürlich, wenn du meinst« gemurmelt.
»Alles geklärt?«, fragte meine Großmutter erleichtert, als sie die beiden zusammen zum Essen kommen sah.
»Jap, sie hat’s eingesehen«, antwortete mein Großvater und war in dem Moment wohl selbst davon überzeugt, mal wieder einen Sieg davongetragen zu haben.
Trotzdem und auch im Nebel seines Größenwahns erkannte er, dass er mit meiner Großmutter allein das Ding nicht wuppen könnte. Es dauerte zwei Wochen, seinen Bruder davon zu überzeugen, dass er sich in der Bank auf verlorenem Posten abrackere, eine weitere, und Helm kündigte, »weil sich mit der ganzen Sicherheit ja nichts reißen« lasse, wie er am Abend der entsetzten Gundl erklärte.
»Er war doch immer zufriede uff de Bank!«, klagte sie meiner Großmutter, »un jetzt will er uf ähmol Gschäftsmann werre. Noch fünf Johr, dann hätt er in Rente gehe kinne. Was solln aus em Vadder werre? Isch krieg kä Aach mehr zu.«
»Ruhiger Schlaf kann nicht Sinn und Zweck des Lebens sein«, rief mein Großvater, während er die Kamera für seine erste Erkundungstour zusammenschraubte. Und überhaupt sei die ganze Aufregung verfrüht. »Bis die zwischen ihren Stasi-Akten die Besitzurkunde gefunden haben, gehen sicher noch ein paar Monate ins
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