Fünf Kopeken
Hause wie normale Leute und wüsste es!«
Ilse hängte ihre Tasche über die Stuhllehne. Unsagbar vorsichtig, als habe sie Angst, die Sterbende zu wecken, trat sie aufs Bett zu, die Hände vom Körper gespreizt wie eine Seiltänzerin, und begann Gundls Arm zu streicheln, während sie ein sanft-selig-glückliches Lächeln über den reglosen Körper gleiten ließ.
Meine Großmutter erhob sich, was nicht ohne ein bisschen Gehüstel abging, und beugte sich ebenfalls über die Schlafende. Sie raschelte in ihrer Handtasche, zog ein zwanzigmal gefaltetes Taschentuch heraus und tupfte Gundl den Speichel vom Kinn.
»Lass doch, Hilde«, sagte mein Großvater. Woraufhin meine Großmutter das Taschentuch abrupt zusammenknüllte und mit noch mehr Geraschel wieder zurückstopfte, sich beleidigt auf den Stuhl fallen ließ, die Tasche auf ihre Knie knallte. Stöhnte. Sich gegen die Lehne warf. Weiter stöhnte, bis auch der Helm kurz aufsah, sich, die Finger auf den Kehlkopf gepresst, räusperte. Dann aber doch wieder wortlos erstarrte. Was wiederum meinen Großvater heftig schnaufen ließ.
Der Arzt kam, ein sehr langsam gehender, sehr, sehr langsam sprechender Mann, der auch nach fünf Minuten im Grunde nichts anderes gesagt hatte, als dass die Lage ernst sei.
»Am besten besprechen Sie das mit meiner Tochter«, konnte sich mein Großvater dennoch nicht verkneifen, »eine zukünftige Kollegin von Ihnen.«
Meine Großmutter zuppelte meiner Mutter am Pullover. »Die ganze Nacht ist sie durchgefahren, um bei ihrer Tante zu sein. Hat nicht mal mehr Zeit gehabt, sich die Haare zu waschen, das Kind!«
Der Arzt erzählte etwas von einem, bisher offenbar unbemerkten, Herzfehler, womöglich ein genetischer Defekt. Es sei aber auch denkbar, dass eine Infektion im Kindesalter oder ein falsches Medikament die Fehlbildung verursacht habe, das ließe sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht feststellen.
Natürlich war das alles Quatsch. Meine Großmutter wusste, dass es nur einen Grund für Gundls plötzlich kränkelndes Herz gab: Sturheit.
»Ausgerechnet jetzt!«, stöhnte sie. Wo man doch gerade dabei sei, zu expandieren, buchstäblich auf dem Weg nach Berlin, die erste Filiale in der alten DDR .
»Um unseren Beitrag zu leisten«, ergänzte mein Großvater und schaute herausfordernd, als erwarte er eine Belobigung dafür, dass er hier einer patriotischen Bürgerpflicht nachkam, anstatt sein Vermögen wie andere Männer seines Schlags ins Bordell zu tragen.
»Mode-Schneider«, erklärte er, und, einer plötzlichen Eingebung folgend, »grenzenloser Geschmack«, was es letztlich eine Saison lang sogar als Slogan auf den Katalog schaffen würde.
»Hauptsache, man quält sie nicht für nichts und wieder nichts«, rief meine Großmutter, »wir wollen ihr Leiden nicht unnötig in die Länge ziehen.«
»Sicherlich«, murmelte der Arzt, und: »Rufen Sie mich, wenn sich etwas ändert.« Dann schlurfte er wieder aus dem Zimmer.
Aber es änderte sich nichts. Nicht in der Nacht und auch nicht am nächsten Morgen. Das Krankenhauspersonal, angeblich ganz und gar mit der Pflege anderer Patienten beschäftigt (denen es jedoch nach einhelliger Meinung unmöglich so schlecht gehen konnte wie Gundl, von meiner Großmutter, das weniger einhellig, ganz zu schweigen), überließ meine Familie weitgehend sich selbst, was man schon als grob fahrlässig bezeichnen darf. In größtmöglichem Abstand standen sie im Raum verteilt, warfen einander böse Blicke und manchmal auch vereinzelt ein paar Worte zu, wie in einem modernen Theaterstück, in dem die Darsteller den ganzen Abend über im selben Raum sitzen und sich anstarren. Nur mein Großvater lief immer mal wieder zur Telefonzelle und versuchte Max zu erreichen, oder, wenn das schon nicht klappte, wenigstens seine Lieferanten zu überreden, etwas später zu kommen, »höhere Gewalt, glauben Sie mir, Sie wollen nicht mit mir tauschen.« Wenn er zurückkam, hatte er blaue Lippen und noch miesere Laune. »Allein die Tanzgruppe kostet 20 Mark«, murmelte er und schüttelte den Kopf ob so viel Ungerechtigkeit.
Woraufhin meine Großmutter, offenbar von dem Wunsch getrieben, auch etwas zu sagen, Helm zurief: »Was meinst, hätt die Gundl lieber ein offenes Grab gewollt oder eine von diesen Marmorplatten, wo man nur nen Blumenstock draufstellt?«
Helm reagierte nicht.
»Wenn du mich fragst, wäre ein geschlossenes Grab besser, jetzt wo wir nicht mehr so oft da sind, um uns zu kümmern«, sagte meine
Weitere Kostenlose Bücher