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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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ohnmächtig.
    Die folgenden Stunden sind schwer zu rekonstruieren, weil jeder der Beteiligten so damit beschäftigt war, dem anderen sein Verhalten zu verübeln, dass spätere Erzählungen nur darum kreisten, wer wen »faschd in de Wahnsinn getriwwe« habe, und auf Fakten weitgehend verzichteten, allen voran Gundls Zustand betreffend, die nur noch einmal aufwachte und »isch hab so Angschd ghabt« murmelte, woraufhin meine Großmutter vehement den Kopf schüttelte und »woher denn? Ist ja gar nix passiert!« rief, als spreche sie mit einem Kind, das sich das Knie aufgeschürft hat.
    »Was hätt’s ihr denn bitte genützt, wenn ich gesagt hätt’, das nächste Mal, wenn du die Augen aufmachst, siehste die Radieschen wohl von unten?«, wehrte sie sich gegen die nicht abreißen wollende Kritik von späteren Zuhörern (mir), und darauf fiel den andern am Tisch (meine Mutter: völlig ihrer Meinung; mein Großvater: grundsätzlich ihrer Meinung, solange er nicht das Wort hatte, aber eh auf Durchzug; Helm: betrunken, abwesend, oder tatsächlich abwesend) auch keine Antwort ein.
    Ungeachtet dieses nachträglichen Triumphs widmete sie ihre gesamte Erzählzeit der Erinnerung ans Gekränktsein. Darüber, wie mein Großvater sie angeschrien habe, die solle »verdammt noch emol s Maul halde. Bei dem Gflenne kann sisch jo kän Mensch konzentriere!« Wie er und der Helm mit der Gundl in den Armen so schnell ins Krankenhaus gerannt seien, dass sie kaum hinterher gekommen sei. Und natürlich, die schlimmste Kränkung von allen: dass die Gundl sie im Kampf um den Titel der vom Schicksal Verfolgtesten geschlagen hatte. »Dabei war sie doch alleweil noch gut beisammen«, wie meine Großmutter selbst auf Gundls Beerdigung anklagend hinzufügte, und auf der meiner Mutter auch noch mal.
    Mein Großvater ärgerte sich, weil sein schöner Plan durcheinanderkam. Weil der Helm nach seinem Gespräch mit dem Arzt völlig verstummte und es stattdessen ihm überließ, sich um die gebotene Bevorzugung vonseiten der Schwestern zu kümmern. Weil die für sein Süßholz hier völlig unempfänglich waren, ein erster Vorgeschmack auf die Zukunft im Osten, die gerade erst begonnen hatte, und doch schon kurz vor dem Aus zu stehen schien.
    »Wenn wir bis morgen Abend nicht da sind, muss ich die Eröffnung verschieben!«, rief er immer wieder und trommelte auf seine Armbanduhr.
    Und der Helm war einfach nur sauer. Sauer auf meinen Großvater, weil er ihn überredet hatte, mit nach Berlin zu kommen, auf sich selbst, weil er zugestimmt hatte, auf meine Großmutter, weil sie »ned verdammt noch emol s Maul« hielt, wie es nach Stunden der Warterei auch aus ihm herausbrechen sollte. Vorerst konzentrierte man sich aber ganz darauf, einander böse Blicke zuzuwerfen. Erst als der Arzt fragte, ob sie einen Priester sehen wollten, was mein Großvater kategorisch ablehnte, schickte der meine Großmutter los, »die Hiobsbotschaft« zu verkünden.
    Es war schon nach Mitternacht, als meine Mutter und Ilse eintrafen. Aber noch war Gundl nicht ganz tot.
    »Ach herrje, es hätt doch gereicht, wenn ihr morgen früh gekommen wärt!«, rief meine Großmutter. Sie küsste meine Mutter auf die Wangen und verwischte unwillkürlich die Lippenstiftreste.
    »Morgen früh sind wir hoffentlich selbst nicht mehr hier«, murrte mein Großvater.
    Meine Mutter befreite sich aus der Umarmung. »Warum habt ihr denn nicht gleich angerufen?«
    »Wieso? Du hättst doch eh nix ändern können«, sagte meine Großmutter.
    »Vielleicht weil ihre Tante im Sterben liegt«, antwortete Ilse, in die sie nicht mal die 30 Pfennig für den Münzsprecher investiert hatten. Sie war schon im Bad gewesen, um sich für die Tagesschau hübsch zu machen, als der Mercedes meiner Mutter in die Einfahrt gerollt gekommen war.
    »Ich weiß wirklich nicht, was ihr von mir wollt«, keuchte meine Großmutter. »Sie ist doch nicht mal wach!« Sie zeigte auf das Bett, in dem die Beatmungsmaschine Gundls Brust aufblies, und kramte ihren Inhalator aus ihrer Handtasche.
    Meine Mutter ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. »Wo ist denn der Max?«
    »Aus!«, rief mein Großvater, »mehr war aus diesem bekloppten Mitbewohner von ihm nicht rauszubringen. Aus ist er, während seine Mutter hier verreckt.«
    »Oskar!«, zischte meine Großmutter, »das kann er ja nun nicht wissen.«
    Mein Großvater stapfte auf. »Wenn er es endlich mal schaffen würde, eine Stelle mehr als drei Tage zu behalten, wäre er um die Zeit zu

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