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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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der neuen Wohnung wieder gen Süden fuhr, denn sie ließ sich die Beerdigung nicht nehmen. So sehr sie Gundls Tod anfangs gefuchst hatte, so erfreut erkannte sie jetzt, dass deren Leid auf magische Weise in ihr eigenes Unglücksreservoir übergegangen war. Ein gestärktes Taschentuch in der Hand stand sie hinter dem Kondolenzbuch und berichtete mit gebrochener Stimme von den letzten Stunden ihrer »liewi Schwäscherin«, von ihrem »guude Herz«, das, wie sich jedoch herausgestellt hatte, in Wahrheit leider gar nicht gut gewesen war, ach ja, Lippenzittern, Lidertupfen. »Und diese Angst in den Augen, als sie mich am Ende angesehen hat!«, seufzte sie, bis man ihr mitfühlend die Hand drückte. Sogar den bettlägerigen Vater beanspruchte sie für sich, war sie es doch gewesen, die ihm die Todesnachricht ins Heim hatte bringen müssen, weil der Helm dazu nicht mehr in der Lage gewesen sei, »der Ärmste.«
    Sie ging derart darin auf, das unverhoffte Erbe auszuplündern, dass ihr gar nicht auffiel, wie der Helm plötzlich aufstand und grußlos verschwand. Als er am Abend noch immer nicht zurück war, brachte meine Mutter sie zum Bahnhof, wo meine Großmutter das ganze Verabschiedungsdrama noch mal abzog, bis Max sie schließlich ins Abteil ziehen und bis Göttingen im Arm halten musste  – man möchte annehmen, selbst ein bisschen traurig darüber, dass ihm so mir nichts dir nichts die Mutter weggestorben war. Aber in den Geschichten meiner Großmutter war neben ihrem eigenen Trennungsschmerz nicht mal für ein paar Tränchen seinerseits Platz.
    Der Helm ließ sich erst am Eröffnungstag wieder blicken, sternhagelvoll, wie er es von da an jeden Tag sein sollte. Mein Großvater schaffte es gerade noch, ihn mit sich in die Warenannahme zu ziehen, bevor er das in Gold gehüllte Mädchen an der Spitze der Pyramide von den Schultern der Rot- und Schwarzberockten reißen konnte. Aber als er auch in den nächsten Wochen mit schon morgens nebligem Blick ins Büro wankte und sich dort nur noch bewegte, um den Kopf unter den Schreibtisch zu stecken und einen Schluck aus der Flasche zu nehmen, wurde klar, dass er zu nichts mehr zu gebrauchen war  – sodass mein Großvater schließlich meine Mutter anrief, um ihr »ein Angebot zu unterbreiten«.
    »Was denn bitte für ein Angebot! Er nutzt dich doch nur aus«, sagte Babsi, »was ist denn mit dem, was du willst?«
    »Was will ich denn?«, fragte meine Mutter spöttisch.
    »Keine Ahnung!«, rief Babsi aus ihrer Pariser Telefonzelle. »Aber wenn du jetzt gehst, wirst du es nie erfahren.«
    »Ist doch nur vorübergehend«, sagte meine Mutter und klebte die Umzugskartons, die sie gerade erst ausgepackt hatte, wieder zu.
    Nach Gundls Tod war sie wie geplant in die kleine Wohnung über dem Laden gezogen, hatte frisch gestrichen, ihren eigenen Namen ins Telefonbuch eintragen lassen, aber schon als es daran ging, die Schränke einzuräumen, zögerte sie, weil sie sich nicht entscheiden konnte, in welcher Reihenfolge sie die Socken, Unterhosen und BH s (mit denen sie damals noch nicht gebrochen hatte, damit wartete sie schön bis zu der Zeit nach der Schwangerschaft, als ihre Brüste mit einem Mal zwei Körbchengrößen zulegten, und sie sie, statt das Geld in ein neues 5er Set zu investieren, einfach der Schwerkraft freigab) anordnen sollte.
    Sie las viel. Lernte viel. Von dem Geld, das ihr mein Großvater beim Abschied verstohlen in die Hand geschoben hatte, leistete sie sich eine neue Geige, auf der sie nun, wo sie auf niemanden Rücksicht nehmen musste, auch mitten in der Nacht spielen konnte, es aber nicht tat. Manchmal ertappte sie sich, wie sie einfach so dasaß und vor sich hinglotzte. Und als sie schließlich die letzte Tupperdose Großmutterauflauf aufwärmte, spürte sie tatsächlich etwas, was sie in Ermangelung eines besseren Wortes Einsamkeit nannte. Sie stand noch vor dem Leben in der Schlange, unentschlossen, ob sie einsteigen sollte oder nicht. Der Anruf war nur der letzte drängelnde Rüpel, den sie brauchte, um das Ticket in der Hand zusammenzuknüllen und auf dem Absatz kehrtzumachen.
    Das Geschäft laufe schleppender an als erwartet, hörte sie meinen Großvater am Telefon widerwillig zugeben. Die Nachbarschaft, so schrecklich sie sich auch kleide, »Schulterpolster! Das hältst du doch im Kopf nicht aus!«, sei skeptisch, er selbst kaum im Laden, weil er ständig damit beschäftigt sei, Lieferungen anzunehmen, Hosen aufzubügeln oder einen Bestellschein zu suchen,

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