Fünf Kopeken
Rücken und nahm sein Gesicht in ihre Hände.
»Wut ist leichter zu ertragen als Trauer«, sagte sie, während Helms aufgequollenes Gesicht zwischen ihren Fingern hindurchlugte. Es sei leichter, auf die Ärzte und die Schwestern oder auf den Oskar böse zu sein – »Was? Was hab ich denn bitte damit zu tun?« –, als den Schmerz zu fühlen.
Dann begann plötzlich irgendetwas zu piepen.
»Es ist so weit«, schrie meine Großmutter aufgeregt wie ein Kind am Weihnachtsabend.
Der Arzt kam »angerannt«. Helms Gesicht wurde leichenblass.
»Hundertirgendwasundirgendwaskommavielzuwenig«, erklärte meine Mutter emsig und bot auch gleich die restliche Diagnose an.
Aber der Arzt schüttelte nur entschuldigend den Kopf.
»Falscher Alarm«, sagte er, worüber meine Mutter sich noch ihr ganzes Leben furchtbar aufregen konnte. »Ist sie tot oder ist sie tot?«, würde sie später rufen und dabei die Lippen fast so schön aufeinanderdrücken wie meine Großmutter.
Aber erstmal ging die Warterei weiter, auch wenn meine Großmutter den Arzt nochmals darauf hinwies, dass man Gundl wirklich, wirklich nicht leiden lassen wolle, manchmal sei es das Menschlichste, Schluss zu machen, »wenn Sie sagen, es ist Zeit, ist es Zeit.« Der Helm kriegte sich langsam wieder ein, auch wenn Ilse ihr Möglichstes tat, das zu verhindern. Er müsse »es« raus- beziehungsweise zulassen, die Gundl gehe jetzt an einen besseren Ort, die Liebe ist stark wie der Tod – was sie dann auch der Fasttoten selbst erklären wollte. »Hab keine Angst«, flüsterte sie, »wir sind bei dir«, und »es ist in Ordnung, du musst jetzt nicht mehr stark sein«, wobei sie abwechselnd Helm und die arme Gundl befingerte, der das dann endlich auch zu viel wurde.
Gerade noch rechtzeitig, dass man es, wenn man »so richtig Bleifuß« gebe, noch nach Berlin schaffen konnte, erinnerte sie sich ihrer Verantwortung. Um halb zwei begann die Zappellinie auf dem Monitor auszuschlagen, Viertel vor drei öffnete sie für eine halbe Sekunde die Augen, in denen meine Großmutter »zweifelsohne« Schadenfreude erkannt haben will. Und wenige Minuten später war es vorbei. Hätte der Arzt nicht betreten den Kopf gesenkt und jedem Einzelnen die Hand geschüttelt, sie hätten nicht mal gewusst, wann. Ihr Herz, von dem es hieß, es sei ein kleines Wunder, dass sie damit überhaupt so alt geworden war, hörte einfach zu schlagen auf. Kein Aufbäumen, kein letztes Ringen. Ein höflicher, sehr gesitteter Tod, wie ihn sonst keiner in meiner Familie zustande brachte. Als die Schwestern den Kiefer nach oben banden, hatte mein Großvater den Papierkram schon erledigt.
Meine Mutter versprach, die Überführung zu übernehmen, denn selbstverständlich kam die Gundl am Ende wieder zurück ins Kaff, und ja, auch sich warm anzuziehen und, etwas leiser, den Wagen gleich einzusprühen, wenn sie die Gundl abgegeben hätten, damit der »Leichenmief« nicht in die Polster krieche. Es wurde sich gedrückt, mein Großvater schenkte dem Arzt eine Schneider-Mütze, dann rasten sie wieder los, meine Großmutter und Helm auf dem Rücksitz, jetzt mit etwas mehr Beinfreiheit.
»Hätten wir den Kopf in den Sand stecken sollen, oder was? Es war doch alles geplant«, empörte sich meine Großmutter, wenn Zuhörer (wie gehabt) die große Eile beanstandeten.
»Wenigstens der Helm hätte doch noch mal zurück gekonnt«, sagte ich.
»Ferz«, rief meine Großmutter. Ablenkung sei das einzig Richtige gewesen. Außerdem habe keiner ein Wort gesagt, als er nach dem Leichenschmaus eine halbe Woche verschwunden war. »Obwohl im Geschäft die Hölle los war!«
Niemand wusste, wo er war. Meine Großmutter musste mit Max (der rechtzeitig zur Beerdigung dann doch wieder aus dem Berliner Nachtleben aufgetaucht war) alleine zurück nach Berlin fahren, mit dem Zug!, weil der Helm das Auto rücksichtsloserweise auf seinen kleinen »Selbstfindungstrip« mitgenommen hatte, worüber ebenfalls »keiner ein Wort verlor«, wie meine Großmutter den übriggebliebenen Trauernden im Zum Engel erzählte.
Mein Großvater war gar nicht erst gekommen. Ich bitte dich! So kurz vor der Eröffnung? »Umäglisch!« Vor allem jetzt, wo seine rechte Hand die Frage, ob ihre Strümpfe nun blickdicht anthrazit oder opaque schwarz seien, offenbar mehr beschäftigte als die bevorstehende Insolvenz.
»Brauchst dich nicht wundern, wenn bei deiner Rückkehr ein Kuckuck an der Tür klebt«, rief er ihr nach, als sie nach nur drei Nächten in
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