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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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ganz so entzückend war, das Geschrei des Nachbarsmanns, der das Geschrei nicht mehr ertrug, das Geschrei der Nachbarsfrau, die den Nachbarsmann nicht mehr ertrug, Stühlerücken, Türenschlagen, dann das Gehechel, wenn sie sich wieder versöhnten. Die Wände waren aus Pappe, aber anstatt wie richtige Deutsche Drohbriefe an den Vermieter zu schreiben, wurde einfach noch mehr Zeit miteinander verbracht. Bis tief in die Nacht dröhnte der Lärm der Brüderlichkeit durch die Flure, über den sich nie, nie, nie einer beschwerte, weil sie gar nicht wussten, was es heißt, schlafen zu müssen. Aufstehen zu müssen. Arbeiten zu müssen. Einfach irgendetwas müssen zu müssen, weil man vom immer nur Können und Wollen doch durchdreht!
    Die Wessis waren noch schlimmer, wenn auch mit besseren Zähnen, dafür aber wirklich faul. Die, die schon vor der Wende gekommen waren: Drückeberger, die danach: Abenteurer, die nicht erwachsen werden wollten und stattdessen Aufbau spielten. Die in einem Fort von Neuanfang und Chance und Freiräumen quatschten. Die nach fünf Minuten in Berlin jeden als »Provinzler« verlachten, der den Fixern auf dem Bahngleis auswich.
    Der Einzige, der Berlin noch mehr hasste als meine Mutter, war mein Vater. Das war das Zweite, was er zu ihr sagte: »Ich hasse diese Stadt.« Das Erste war: »Du scheinst dich ja blendend zu amüsieren, was?«, wofür sie von ihrem Glas aufschaute und fast lächelte. Später, als er schon neben ihr lag und sie wieder und wieder küsste, gestand er ihr, dass das seine Masche war, nach dem gelangweiltesten Mädchen Ausschau halten. Aber da war ihre Hoffnung, doch noch jemanden gefunden zu haben, der ähnlich anders war wie sie, schon zu groß, um kleinlich zu sein.
    Er liebte sie. Er liebte sie, wie nur jemand lieben kann, der nicht im selben Maße wiedergeliebt wird. Er liebte sie, vom ersten Moment an, und das verzieh sie ihm nie.
    »Warum denn?«, schrie sie, wenn nichts Gutes im Fernsehen lief und sie aus Langeweile vorm Schlafengehen ein bisschen stritten.
    »Ich tu es eben.«
    »Aber warum? Was ist es denn, was du an mir liebst?«
    »Das kann man nicht erklären«, sagte er mit seiner ruhigen, zärtlichen Stimme, die sie zur Weißglut trieb. »Ich liebe dich einfach.«
    »Unsinn«, rief sie und schlug seine Hand von ihrem Arm, »du musst doch Gründe haben!« Aber er zuckte nur die Schultern, was sie natürlich noch mehr aufregte.
    Meine Mutter ertrug es nicht, dass ihr sein Herz einfach so in den Schoß gefallen sein sollte. Sie wollte es sich verdienen, wollte es als Preis für all die Mühe, die sie sich gegeben hatte, die zu werden, die sie war. Seine »bedingungslose Liebe«, wie sie mit abgewandtem Gesicht sagte, als handle es sich um etwas Anstößiges, war in ihren Augen etwas für Menschen, die die Bedingungen nicht erfüllen können. Eine Liebe, die Menschen wie sie nicht nötig hatten. Sie experimentierte damit herum, war mal lieb, mal zickig, mal einfach gemein. Zwei Mal machte sie Schluss, nur um zu sehen, wie er reagierte. Aber erst als sie aufhörte, sich Mühe zu geben, schaffte sie es, seine Hingabe zu erschüttern, ganz überrascht, wie leicht es dann doch gegangen war.
    Er kam aus Friedrichshain, was ihm sehr peinlich war, wie so vieles. Seine Kindheit war kein Spaß, die Jugend mochte er fast so wenig wie meine Mutter. Beides überlebte er nur, indem er sich ein paar handfeste Störungen zulegte. Er war kompliziert, komplexbeladen, paranoid, ein bisschen suizidal, aber zu schmerzempfindlich, um etwas damit anfangen zu können. Tag für Tag fand er neue Gründe, sich selbst zu verachten. Manchmal ertrank er förmlich in seiner Melancholie, dann war er wieder von einem schnell erschöpften Tatendrang erfüllt, deren Überreste meine Mutter ein paar Tage später in den Müll stopfte, nicht ohne ihm einen Vortrag über sein mangelndes Durchhaltevermögen zu halten. Sie führten ausufernde Diskussionen, die bei meinem Vater fast immer eine Flut von Einschränkungen, Berichtigungen, Rücknahmen, endlich Entschuldigungen freisetzten, aus der meine Mutter ihn dann wieder retten musste, bis sie selbst triefendnass war von all der Selbsterniedrigung, die er an ihre Brust rieb. Mit ihm zusammen zu sein war eine Herausforderung. Aber wäre ihre Beziehung nicht anstrengend und schwierig und herausfordernd gewesen, wäre es nicht die meiner Mutter gewesen.
    Der Vater meines Vaters, mein anderer Großvater, den ich nie getroffen habe, war selbst in der DDR ein

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