Fünf Kopeken
den die Sekretärin (die hier nicht nur nicht mehr Fräulein heiße, sondern auch »beileibe« keines sei) falsch abgelegt habe. »Arbeitsethisch verwahrlost«, wie die Menschen nach einem halben Jahrhundert Sozialismus nun mal seien, sei das »Material«, das ihm zur Verwirklichung seines deutsch-deutschen Traums zur Verfügung stehe, »unter aller Sau«, die mitgereiste Familie wie gesagt weitgehend unbrauchbar, sodass er alles Wichtige selbst übernehmen müsse. Und wichtig sei in dieser Phase natürlich alles. Er arbeite 80, 90, 100 Stunden die Woche, was selbst ihm irgendwann zu viel werde.
An den letzten paar Worten ging er fast ein.
Wenn meine Mutter nicht ganz schnell nach Berlin käme, solle sie sich darauf gefasst machen, ihre erste Autopsie am eigenen Vater durchführen zu müssen, rief meine Großmutter im Hintergrund.
Meine Mutter wand sich, zögerte die längst gefällte Entscheidung heraus, so schön war es, sich bitten zu lassen. Als sie am dritten Abend jedoch noch immer behauptete, erst noch mal mit der Freien Universität sprechen zu müssen, ob man ihr wenigstens das Physikum anerkenne, kehrte mein Großvater übergangslos in die herrische Tonart zurück und erklärte, die Wohnung verkaufen zu wollen, vielleicht sogar schon verkauft zu haben, man brauche jetzt das Geld, ansonsten Bankrott, Bensheim, er erwarte sie Anfang der Woche. Das Gästebett sei schon bezogen.
»In Ordnung«, sagte meine Mutter kleinlaut, und mein Großvater hatte die Güte so zu tun, als habe es ihrer Zustimmung noch bedurft.
Sie zog zu meinen Großeltern, vorübergehend. Die Wohnung war groß und schön, aber eben doch eine Wohnung, kein Haus, noch dazu eine Berliner Wohnung, also eine Katastrophe. Wenn der Wind von Westen kam, wehte der ganze Industriedreck durch die Fenster, die natürlich nicht dicht waren. Statt des üblichen zartgelben Heischens um Aufmerksamkeit hustete meine Großmutter schwarzen Ruß in ihr Taschentuch. Dann kam der Winter, schob die Kälte durch die Ritzen und die Wärme an die hohen Decken, die auf einmal auch nicht mehr so toll waren.
»Das härtet ab«, sagte mein Großvater, »ein bissel Sand im Getriebe hat noch keinem geschadet.« Wie die meisten Konvertiten schoss er erstmal übers Ziel hinaus. Die große Wendeeuphorie war vorbei, aber seine eigene, kleine verteidigte er eisern. Und jetzt, wo meine Mutter da war, würde es ja ohnehin bergauf gehen.
Vorübergehend dauerte drei Monate, sechs Monate, weil das Geschäft noch immer nicht lief, neun, weil es dann endlich doch lief und meine Mutter meinen Großvater nun wirklich nicht alleinelassen konnte, jetzt, wo ihnen die Leute die Bude einrannten.
Morgens ging sie in die Uni, mittags ins Geschäft, abends in die Bibliothek, dann ins Bett für ein paar Stunden, bis sie das mit dem Schlafen irgendwann ganz bleiben ließ. Aber das war ja damals normal. Wenn man den Erzählungen der Glücklichen, die »dabei« waren, Glauben schenkt, hat in den ganzen 90ern in Berlin ja überhaupt nie einer geschlafen, wenn auch natürlich eher, um in irgendwelchen abbruchreifen Stasibauten irre Partys zu feiern, die jetzt auch so hießen und nach Angaben meiner Mutter allen, allen, allen, die sie kannte, einziger Sinn- und Lebenszweck waren. Viele waren das natürlich nicht, denn hier, in der Heimat des ewigen Proletariers, wurde sie mit den Menschen erst recht nicht warm. Die Ossis mit ihren faulen Zähnen und verrupften Haaren sahen aus, als hätten sie sich seit dem Mauerfall nicht mehr gewaschen, was aber niemanden störte, »weil jetzt ja keinen mehr was störte!« Gesetze, Vorschriften, Zwänge gab es nicht mehr. Außer dem zur Freiheit. Aber selbst die war den Alteingesessenen nur ein endloses Fest, nicht die Summe der ungelebten Leben, die sie für meine Mutter war. Langeweileverwöhnt, wie sie aus der Planwirtschaft geschlüpft kamen, wussten sie gar nicht, was das ist: Zeitdruck. In die Uni gingen sie nur, um Freunde zu treffen und über Wessis zu lästern (Männer: öde, Frauen: prüde). Sie fürchteten nichts und wollten nichts, außer beieinander sein. Immer gab es einen See, an den gefahren, oder ein Hinterhofspontankonzert, auf dem die Sau rausgelassen werden musste. Und wenn es ihnen tatsächlich mal gelang, sich für ein paar Stunden voneinander loszueisen und in ihre eigenen Wohnungen zu gehen, teilten sie immer noch alles, die Musik, das Fernsehprogramm, den Soljankagestank, das Geschrei des Nachbarkindes, das aus der Nähe nicht mehr
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