Fünf Kopeken
totaler Versager, »und da gehörte schon was dazu«, wie mein erster Großvater sagte. Er war bekennender Müllfahrer, erzählte eine Menge schlechter Witze, verzockte beim »Goldene 6«-Spielen sowohl sein Vermögen als auch seinen Ruf, fand aber trotzdem noch reichlich Gelegenheit, seine Frau zu betrügen. Danach hatte er ein so schlechtes Gewissen, dass er sie grün und blau schlug, sie und meinen Vater, erstere irgendwann in die Flucht über die Elbe, dann nur noch ihn.
Mein Vater kam zu dem Schluss, der einzige Weg aus seiner kläglichen Existenz sei der, ein so bedeutender Liedermacher zu werden, dass man ihn auch im Westen hören, bejubeln und schließlich dahin ausweisen würde. Weit, weit weg von seinem Vater. Leider hatte er weder Geld für ein Instrument, noch eine Spur von Talent, geschweige denn Freunde, mit denen man eine »Kapelle« hätte gründen können. Also entschied er sich für die zweitbeste Lösung: verstecken. Neben der Setzer-Lehre, die er mit größtmöglichem Desinteresse antrat, verbrachte er den Großteil seiner Zeit in der Stadtbücherei, dem einzigen Ort, an dem er vor meinem zweiten Großvater sicher war. Dann kam die Wende, durch die sich für meinen Vater gar nicht so viel wendete, außer dass er seine Mutter besuchen durfte, was er aber jetzt nicht mehr wollte. Mein Großvater verschwand seinerseits, zumindest für eine Weile, sodass mein Vater zwischen den Buchdeckeln hervorkommen konnte. Aber das angelesene Wissen blieb, wenn auch ein bisschen eingerostet, und meine Mutter war ein dankbarer Sparringspartner. Die ersten Wochen verbrachten sie fast nur damit, den anderen mit vermeintlich achtlos hingeworfenen Behauptungen zu beeindrucken beziehungsweise dessen Einwürfe zu falsifizieren, was in der prä-wikipedialen Epoche noch ganz lustig war. Sie gingen in Museen, ins Theater, liefen an der Spree entlang und erzählten einander ihren Bildungsroman, der bei ihnen noch vor allem aus Büchern bestand. Noch war ihr Leben das derer, über die sie gelesen hatten. Oder zumindest glaubten sie das, hatten noch nicht erkannt, dass sie bereits dabei waren, an ihrer eignen Geschichte zu schreiben.
Sie hatten sich in einem Irish Pub kennengelernt, bei einem Treffen für die ausländischen Studenten, zu dem sich meine Mutter von Max, gerade mal wieder am Ende irgendeiner nie wirklich begonnenen Karriere, hatte mitschleppen lassen. Er selbst war nach fünf Minuten mit einer dunkelhaarigen Schönheit abgezogen und hatte sie inmitten einer Gruppe aus Italienern, Engländern und einem Kolumbianer zurückgelassen. Unglücklicherweise entpuppten sich die Ausländer aus der Nähe jedoch als noch langweiliger als die Deutschen. Die einen waren nur gekommen, um die Mauer zu sehen, von der fast nichts mehr da war, die anderen, um mit einem deutschen Mädchen zu schlafen, das meine Mutter noch nie war, zumindest nicht das große, starke, blonde Bärenweib, das sie sich darunter vorstellten. Man sagte, was zu sagen ist: Unglaubliche Stadt. Was für eine Geschichte! Und der Hitler ist wirklich gleich hier drüben über die Brücke? Wahnsinn! Dann versandete das Gespräch so schnell zwischen Wegbeschreibungen zu Häusern, in denen mal, aber natürlich nicht mehr, Seufzen, Kopfschütteln, Juden, Nazis, Stasis oder alle drei gewohnt hatten, dass meine Mutter es nicht mal mehr als Fremdsprachenunterricht verbuchen konnte. Sie las die englisch-deutsche Speisekarte, fand zwei Fehler, diskutierte mit der Kellnerin darüber, ob die richtige Übersetzung von Fish ’n’ Chips wirklich Fisch und Chips sein könne und wartete nur noch darauf, dass der Kolumbianer wie schon mehrfach angekündigt endlich »Pipi« machen würde, sodass sie ohne Aufmerksamkeit zu erregen hinter ihm aus der Bank kriechen und nach Hause flüchten könnte.
Stattdessen setzte sich dann aber mein Vater auf den freigewordenen Platz. Arno, wie auch ich ihn nannte, das heißt, auch noch immer nenne. Niemals »Papa« oder »Vati«, wie das die Berliner machen. Wahrscheinlich wollte meine Mutter es nicht, und er wollte nichts wollen, was sie nicht wollte.
Nein, es sei kein »Funke übergesprungen«, sagte sie ungeduldig. Er habe ihr den Weg versperrt und, nachdem sie seinen Einstiegssatz mit eben jenem Lächeln belohnt hatte, einfach weitergeredet, über Vergnügungskultur im alten Rom, die Unmöglichkeit der Kommunikation, über den Einfluss der Bodhrán auf die irische Musik, so genau könne sie sich daran nicht erinnern. Er hatte
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