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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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würd sie sogar den vergessen!«, rief meine Mutter, bei der man manchmal den Eindruck gewinnen konnte, ihr größtes Ziel sei es, vor dem Tod noch mal jeden, aber auch wirklich jeden Kalauer durchzuleiern.
    Dem Arzt schien es zu gefallen. Er presste die Lippen aufeinander, um ein Lachen zu unterdrücken, das immer schuldbewusster wurde, je öfter er zu mir rübersah. Das Bügelschloss an seiner Tasche rastete mit einem Klacken ein. Dann drehte er sich zu meiner Mutter und bog Daumen und Zeigefinger auseinander, als würde er eine Pistole auf sie richten. »Ich seh dann morgen wieder nach dir«, sagte er und schnalzte mit der Zunge.
    »Kann’s nicht erwarten«, sagte sie und schoss zurück. Sie behielt die gespreizten Finger in der Luft, während er um das Bett herumging, noch mal kurz auf den Pfosten schlug, »na dann« sagte. Erst als die Tür hinter ihm zufiel, ließ sie sich nach unten sinken. Ihr Gesicht verzog sich, als würde sie Hustensaft schlucken.
    Ich fuhr ihr über den Arm, zog die Decke glatt, wartete darauf, dass ihre Muskeln sich wieder entspannen würden.
    »Bin gleich zurück«, sagte ich, aber sie behielt die Augen zusammengekniffen.
    Der Arzt wartete im Flur auf mich, die Arme mit der Tasche vor dem Bauch gekreuzt. Wieder ging er mit drei Schritten Abstand hinter mit her, als sei ich seine Zellenwärterin. Vor der Haustür blieb er stehen und fragte, wann es mir das nächste Mal passen würde, dabei kam er jeden Tag zur gleichen Uhrzeit. Wieder fuhr er sich über das spärliche Haar. Seine Lippen formten einen langen Strich, während er den Kopf schüttelte.
    »Sie sieht nicht gut aus«, sagte er endlich.
    Gut sah sie doch noch nie aus, dachte ich, behielt es aber für mich.
    Er beugte sich nach vorne und begann zu flüstern, eine Hand am Mund, die Augen ständig in Bewegung, als würde er mir jetzt den Code zum Banksafe verraten.
    Ich versuchte, mir wenigstens ein paar der Wörter so lange zu merken, dass ich sie irgendwie nachstottern und er sie mir mit noch mehr Wörtern, die ich auch nicht verstand, erklären konnte, aber schließlich gaben wir beide auf. Sein Hals verschwand zwischen den Schultern. Ich machte einen Schritt zur Tür, aber er wandte nur den Kopf zu mir und sah mich mit traurigen Augen an. Statt zu gehen, stellte er seine Tasche auf den Boden und rollte die Hemdsärmel wieder nach unten, rieb sich über den Schädel. Seine Finger hinterließen Schlieren auf der Stirn. Ich fragte mich, warum er sich eigentlich so viel Zeit für meine Mutter nahm. Der Tod musste für ihn doch Routine sein. Dass ihm ihr Sterben offenbar trotzdem so nahging, machte mich ein bisschen stolz, und ich ärgerte mich, dass es mich stolz machte. Als hätte ich irgendwas damit zu tun. Das ganze Leben will man von seinen Eltern weg, alles, nur nicht »du bist ja genau wie deine Mutter«, und am Ende glaubt man plötzlich, sich die Liebe oder Freundschaft oder wenigstens Achtung für sie einfach überstreifen zu dürfen, wie einen Pullover, den man im Schrank gefunden hat. Aber ich konnte nicht anders. Es schmeichelte mir, und wenn er mir beim Abschied zum x-ten Mal sagte, dass ich ja wirklich ganz wie meine »werte Frau Mutter« sei, spürte ich, dass auch er nicht anders konnte.
    Er schüttelte wieder meine Hand und schob sich umständlich an mir vorbei ins Treppenhaus, drückte auf den Fahrstuhl. Bevor sich die Türen schlossen, hob er noch mal die Hand und sagte: »Dann morgen um fünf, ja?«
    Ich legte die beiden Schlösser vor, die meine Großmutter mir aus Sorge, sich auch noch um mich sorgen zu müssen, hatte einbauen lassen, wie immer ohne mich zu fragen. Die Handwerker waren eines Morgens einfach vor der Tür gestanden und ich hatte sie machen lassen, weil mit meiner Großmutter zu streiten noch anstrengender war (und, nebenbei gesagt, ist ) als mit meiner Mutter. Letztere drohte einem wenigstens nicht ständig mit dem Tod. Selbst dann nicht, als sie allen Grund dazu gehabt hätte.
    Ich ging zurück ins Schlafzimmer. Sie lag jetzt ganz flach ausgestreckt da. Das Kissen war auf den Boden gerollt oder dort hingeworfen worden. Als ich die Vorhänge, die der Arzt zur Untersuchung immer schloss, wieder auseinanderschob, legte sie sich die Hand auf die Augen und zog die Luft durch die Zähne.
    »Alles klar?«, fragte ich.
    Sie stöhnte laut. »Was ist denn das für eine Frage?«
    »Wieso denn?«
    »Der Arzt war doch grad da. Wenn was wär, hätt ich’s ja wohl eher mit ihm besprochen, als jetzt auf dich

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