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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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ohne abzusetzen, so wie man es tut, um ein Pferd zu beruhigen. »Schsch«, machte er und legte ein Bein über sie, drückte sie so fest an sich, dass sie sich nicht rühren konnte. Ihr Ellenbogen, der unter ihrer Brust eingeklemmt war, stach zwischen ihre Rippen. Oder vielleicht war es auch seiner, das wusste sie nicht.
    »Mach dir keine Sorgen, alles wird gut«, flüsterte er. Und als sie nichts antwortete, »Schlaf jetzt, morgen ist ein neuer Tag.« Und als sie noch immer nichts sagte, »Schlaf gut.«
    Aber meine Mutter schlief nicht.
    Sie lag da, mit offenen Augen, während sich Arnos Brust gleichmäßig zu heben und zu senken begann. Schob ihn von sich. Kroch wieder hinter ihm her und schmiegte ihr Gesicht an seinen warmen Rücken, leise hoffend, sich an seinem Pulsschlag ruhigatmen zu können. Sie wartete, auf was wusste sie nicht. Und natürlich wusste sie es doch, aber eben nicht so, wie sie sonst Dinge wusste. Sie hörte, wie Arno atmete, und es nervte sie, wie er das tat, wie langsam und leise, als schleiche er sich an. Und dann begann er zu schnarchen, und das nervte sie auch. Sie berührte ihn am Arm. Er verstummte sofort, selbst im Schlaf noch so höflich, dass es kaum auszuhalten war.
    Sie spürte die Nacht, so wie man sie nur spürt, wenn man wach liegt und der andere schläft.
    Ein Streifen Licht schoss unter dem Vorhang durch. Sie presste die Hand auf den Mund, um keinen Laut zu machen und keinen Laut zu verpassen, lauschte auf die Schritte im Hof. Sie hörte eine Flasche in den Container krachen, sah das schiefe Grinsen vor sich, den gelben Zahn, die hochgezogene Lippe.
    Die Schritte wurden lauter und dann leiser, die Tür kratzte über den Boden, fiel zu, dann war es wieder still.
    Aber das half auch nichts mehr.
    Sie strampelte die Decke von den Beinen, fror, zog sie wieder bis über die Schultern. Sie drehte sich nach rechts. Nach links. Und kroch endlich vorsichtig aus dem Bett.
    Sie versuchte, nur auf die Dielen zu treten, die nicht knarzten, oder wenigstens weniger knarzten. Ein Berliner Holzboden ist wie eine Partitur, die man auswendig lernen muss. An der einen Stelle knackt und knirscht er kaum hörbar, wie ein Flüstern, aber einen Schritt zu weit und plötzlich kreischt die Latte so auf, dass man unwillkürlich auf die nächste springt. Meine Mutter hatte Monate gebraucht, um den Klang der neuen Wohnung zu studieren. Wie beim Gummitwist sprang sie hin und her, ohne einen Laut zu machen, den Flur entlang in die Küche. Sie nahm ein Glas aus dem Schrank und hielt es unter den Hahn, glaubte wirklich, dass sie etwas trinken wolle, als sie plötzlich vorm Fenster stand. Das Wasser tropfte von ihren nassen Fingern auf den Stuhl, während sie sich über die Lehne beugte und das Milchglasfenster suchte.
    Aber die Hauswand war völlig dunkel.
    Sie sah nach oben. Sie sah in den Himmel und der Himmel war schwarz. Sie schaute nach unten. Sie sah die Fahrräder und fragte sich, warum sie die sehen konnte, wo der Himmel doch schwarz war. Sie dachte, es müsse wohl der Mondschein sein und fand das furchtbar kitschig.
    Sie schaute auf die Tür zum Vorderhaus, die nicht ganz so schwarz war. Aber zu sehen war trotzdem nichts.
    Geh zurück ins Bett, sagte sie sich.
    Aber ihre Beine rührten sich nicht.
    Der Stuhl machte Geräusche. Sie hörte die Küchenuhr die Sekunden verticken, den Wasserhahn tropfen. Sie betastete ihre Lippen. Sie fühlte ihren Mund, der trocken war, und ihre Augen, die da waren, spürte plötzlich überdeutlich, dass sie Augen hatte, dass sie sich bewegten, unendlich langsam, unendlich schwer, dass sie brannten und das immer mehr, aber ins Bett gehen, weggehen, diese Unruhe im Raum stehen lassen, das konnte sie nicht, so wenig wie sie eine schmutzige Tasse im Waschbecken stehen lassen konnte.
    Die Zeit kroch dahin. Lief vor und zurück. Drehte sich im Kreis. Rechtsherum. Linksherum. Und dann raste sie plötzlich los, Dielenknarzen, Schritte, der Klodeckel schlug gegen das Rohr.
    Meine Mutter sprang vom Stuhl und rannte ins Schlafzimmer, warf sich ins Bett. Hielt den Atem an, bis mein Vater hinter ihr angeschlurft kam.
    »Ich wollte nur schnell einen Schluck trinken«, rief sie. Aber er kroch nur neben ihr unter die Decke, schlief sofort wieder ein.
    Und sie wieder nicht.
    Sie drückte das Gesicht ins Kissen. Die Fäuste in die Augen. Sie sah sein Grinsen an ihren Lidern, fühlte es in ihrem Magen, wie ein schwer verdauliches Stück Fleisch. Sie dachte, dass sie mit diesem Grinsen im

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