Fünf Tanten und ein Halleluja
und bürstete ihr langes Haar. Die Strasssteine auf Helgas Schlafbrille glitzerten im Licht der Nachttischlampe. Sie murmelte etwas im Halbschlaf, drehte sich auf die andere Seite und tauchte dann wieder ab. Claire sah aus dem Fenster in den nächtlichen Himmel. Die warme Luft schien zu flimmern, überall funkelten Lichter, und das monotone Rauschen des Verkehrs wehte zu ihr herauf.
Ob Rainer tatsächlich noch in Berlin lebte? Damals hatte sie geglaubt, mit ihm wäre alles möglich. Sie hatte sich ein Leben voller Abenteuer vorgestellt. An seiner Seite hätte sie all ihre Träume verwirklichen können, davon war sie überzeugt gewesen.
Aber dann war Rainer über Nacht abgehauen. Nach Berlin, auÃer ihr hatte er keinem was davon gesagt. Selbst Claire hatte es erst zwei Tage vorher erfahren. Sie wäre ja mitgegangen, aber sie war sich nicht sicher gewesen, ob er das überhaupt wollte. Er hatte sie jedenfalls nicht gefragt, und deshalb war sie letztlich auch geblieben.
Claire stieà einen langen Seufzer aus. Diese alten Geschichten. Was brachte es, ständig darüber nachzudenken? Sie legte die Bürste weg und ging zu Bett. Wenige Minuten später war sie eingeschlafen.
Ein lautes Hupen riss sie aus dem Schlaf. Vorm Hotel fuhr ein Auto mit quietschenden Reifen davon. Sie blickte auf die Uhr. Es war kurz nach drei. Verschlafen zog sie die Decke ans Kinn und schloss wieder die Augen.
Auf einmal hörte sie ein leises Kratzen. DrauÃen im Korridor. Jetzt war es weg. Dann ein Poltern. Was ging dort vor sich? Claire warf die Decke zur Seite und schlich zur Tür. Sie lauschte. Doch da war nichts mehr zu hören. Vorsichtig öffnete sie die Tür und spähte hinaus. Eine Gestalt huschte über den dunklen Korridor. Vielleicht ein Nachtwandler? Doch die Silhouette hatte eindeutige Proportionen.
»Kamilla? Bist du das?« Claire schaltete das Flurlicht ein.
Ihre Schwester blinzelte sie an.
»Was machst du denn hier drauÃen?«, fragte Claire.
»Ich musste aus meinem Zimmer raus. Ich konnte es dort nicht mehr aushalten.«
»Aber was ist passiert?«
»Komm mit! Ich zeig es dir.«
Kamilla packte Claire am Arm und zog sie in das Einzelzimmer, das Ebba für sie besorgt hatte. Ebba hatte im Vorfeld lange mit den Leuten vom Hotel gesprochen, damit alles stimmte und Kamilla sich in ihrem Zimmer wohlfühlen würde. SchlieÃlich kannte Ebba die Zwänge ihrer Schwester sehr gut. Da hatte doch eigentlich nichts schiefgehen können.
Doch nun baute sich Kamilla neben ihrem Bett auf, blickte Claire herausfordernd an, legte den Kopf schief und lauschte. Ihre Schwester tat es ihr gleich. Doch sie hörte nichts.
»Aber was â¦Â«
»Warte!«
Und da, tatsächlich, ein sanftes Rumpeln, kaum wahrnehmbar.
»Das ist der Aufzug!«, rief Kamilla. »Der geht schon die ganze Nacht! Hoch und runter, runter und hoch. Es raubt einem den Verstand. Ich weià nicht, wie sie dieses Zimmer hier überhaupt vermieten können!«
»Ich verstehe. Und warum nimmst du nicht einfach deine Ohropax? Du hast doch welche mitgenommen, oder?«
Natürlich. Eher würde sie ihre Unterwäsche vergessen.
»Das hilft aber nichts! Ich tue hier kein Auge zu! Dieses Geratter macht mich wahnsinnig!«
Claire sah sich ratlos um. Auf dem Nachttisch entdeckte sie die Zeitschrift aus dem Bus. Das Norovirus.
»AuÃerdem ist hier so gut wie gar kein Laternenlicht«, fuhr Kamilla fort. »Da hat sich Ebba einen schönen Bären aufbinden lassen. Die Laterne ist vier Stockwerke unter uns. Es ist hier ganz anders als zu Hause.«
»Kamilla, bitte. Meinst du nicht â¦Â«
»Ich halte es hier nicht aus! Eben wollte ich mir einen Kamillentee machen, um meine Nerven zu beruhigen. Aber ich kann ja hier nicht einmal das Wasser verwenden. Dann bekomme ich doch eine Magen-Darm-Grippe, so wie hier alles verseucht ist.«
Kamilla hatte gleich zu Beginn verkündet, dass sie in diesem Hotel nichts essen und trinken werde. Nach ihrem Blick in die Küche war für sie klar: Hier lauert überall das Norovirus. Am liebsten wäre sie sofort nach Hause gefahren, aber davon hatte Ebba sie abhalten können. Trotzdem fühlte sie sich in dem Hotel äuÃerst unwohl, und sie war darauf bedacht, ja nichts anzufassen.
Und nun also auch noch der ratternde Aufzug und das Laternenlicht, das nicht richtig hereinfiel.
»Ich kann hier nicht
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