Fünf Tanten und ein Halleluja
plötzlich vor?
»Ach, Toni, vergiss, was ich gesagt habe!«, jammerte Kamilla. »Bitte.« Dann blickte sie auf den Joint in ihrer Hand, als hätte der sich plötzlich in eine Schlange verwandelt, und drückte ihn eilig Henrik in die Hand.
Doch es war zu spät. Toni hatte begriffen.
»Mein Vater ist gar nicht ⦠mein Vater?«
Stille. Er konnte nicht fassen, dass ihm keine seiner Tanten widersprach. Der Raum begann sich zu drehen. Schwarze Punkte tauchten vor seinen Augen auf. Er klammerte sich am Türrahmen fest. Atmete tief durch.
»Ihr seid ⦠wir sind gar nicht verwandt? Ich ⦠gehöre gar nicht in diese Familie? Und ihr seid nicht meine Tanten?«
Raus. Er musste hier raus. So schnell wie möglich. Er stolperte einen Schritt zurück, dann drehte er sich um und begann zu laufen.
»Toni!« Das war Tante Claire.
Doch er achtete nicht auf sie. Er riss die Wohnungstür auf und stürzte die Treppen hinunter. Er rannte, als wären tausend Teufel hinter ihm her.
Lief weiter über die StraÃe und in den Park hinein. Erst als er so weit von seiner Wohnung weg war, dass ihn mit Sicherheit niemand mehr einholen würde, blieb er stehen und lieà sich ins Gras fallen.
Die Fenster waren hell erleuchtet, das konnte man von Weitem sehen. Micha war also zu Hause. Wenigstens eine Sache, die heute gut lief.
Toni war immer noch total durcheinander. Tausend Fragen gingen ihm durch den Kopf: Wer war sein wirklicher Vater? Und seine Mutter ⦠sie war doch seine Mutter, oder nicht? Doch, das musste sie sein, er war ihr ja wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie musste fremdgegangen sein, während ihrer Ehe mit seinem Vater. Hatten denn alle in der Familie darüber Bescheid gewusst? Alle auÃer ihm?
Er konnte es nicht glauben. War das der Grund für die Depressionen seiner Mutter gewesen? Für ihren Selbstmord? Hatte sein Vater sie gehasst, nachdem er erfahren hatte, dass Toni gar nicht sein leibliches Kind war? Wann hatte er das überhaupt erfahren, oder wusste er es schon immer? Hatte er Toni deshalb nicht geliebt?
Und warum hatte ihm nie einer etwas gesagt? Er hatte doch ein Recht darauf zu erfahren, wer seine Eltern waren. Wieso hatten alle geschwiegen, die ganzen Jahre über?
Den Schlüssel zu Michas Wohnung hatte er nicht dabei, der lag noch in seiner Küche neben der Kaffeemaschine. Also klingelte er unten an der Tür. Es quietschte in der Gegensprechanlage. »Ja?« Als Toni sich meldete, kam vom anderen Ende nur ein übellauniges »Mhmpf!«, und die Leitung war wieder tot. Wenig später ertönte der Summer, und die Haustür lieà sich aufdrücken.
Micha erwartete ihn an der Wohnungstür.
»Was machst du denn hier?« Er lehnte sich in den Rahmen und versperrte Toni den Weg ins Innere. »Brauchst du Geld?«
Der Burgfriede, den sie gestern beschlossen hatten, als die Mail mit dem Vorsprechtext angekommen war, hielt also nicht mehr vor.
»Oder willst du mich abholen, um mich deiner Familie vorzustellen? Ihr trefft euch doch heute Abend, oder?«
»Kann ich nicht erst mal reinkommen?«
»Damit hier drauÃen keiner mitkriegt, dass wir ein Paar sind?« Er beugte sich vor und flüsterte verschwörerisch: »Ein homosexuelles Paar.«
Toni versuchte, sich an ihm vorbeizudrücken, doch Micha lieà ihm keine Chance.
»Was ist dein Problem, Toni? Du hast doch meine Familie auch kennengelernt. Du gehörst ja praktisch schon dazu! Letztes Jahr Weihnachten, dann die Hochzeit meiner Schwester, Mutters Sechzigster ⦠Alle haben dich ins Herz geschlossen. Jedes Mal, wenn ich zu Hause anrufe, ist die erste Frage: Und wie gehtâs Toni?«
»Die sind ja auch in Ordnung«, sagte Toni kleinlaut.
»Und deine Familie ist ein Haufen von schwulenfressenden Monstern? Gerade dann solltest du mich mitnehmen. Damit du einen Waffenbruder an deiner Seite hast!«
»Ach, Micha. Ich glaub, ich muss das alleine durchziehen â¦Â«
»Ja, schon klar. Weil du dich sonst viel zu sehr festlegen würdest, oder?«
»Nein, das ist doch Unsinn. Es geht eher darum â¦Â«
»Wie lange überlegen wir schon, ob wir zusammenziehen sollen? An mir liegt es nicht, Toni. Und auch nicht am Wohnungsmarkt. Es liegt daran, dass du die Sache immer wieder ausbremst. Ich spreche es ja schon gar nicht mehr an.«
Micha musterte ihn herausfordernd, doch Toni wusste nicht, was er darauf
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