Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Titel: Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
Vom Netzwerk:
Jungen mit Pagenköpfen, Mädchen mit Blondhaaren, mit schmalen Lippen, mit ängstlichen Augen: lachende, greinende, traurige Kinder. Fünfjährige, die nicht wissen, was ihre Mütter für sie taten, Sechsjährige, die nicht begreifen können, daß sie sie verloren haben. Und Straff, der Seeoffizier, der mit allem längst fertig ist, wünscht sich auf einmal sehnlich, daß der verdammte Kasten doch durchkommt, daß die ›Cap Arcona‹ diese verfluchten acht Stunden noch überstehen wird …
    »Ist deine Mutti nicht dabei?« fragt er zwecklos den kleinen Jürgen.
    Der Junge schüttelt den Kopf.
    »Nicht weinen, mein Kleiner, wir finden sie, verlass dich nur auf mich.«
    Im Morgengrauen steht das zweckentfremdete Luxusschiff querab von Swinemünde. Kapitän Gerdts fordert mechanisch, ohne Hoffnung, nur um nichts zu versäumen, zum viertenmal Geleitschutz an. Er ist verblüfft, als er erfährt, daß zwei Schnellboote der Swinemünder Schulflottile seinem Schiff zugewiesen sind.
    Zwei Stunden später tauchen die S-Boote aus der Waschküche auf und umkreisen den grauen Passagierdampfer. Und diese winzigen, schnellen Pötte geben auf einmal eine Sicherheit, die über das ganze Schiff zieht, von Deck zu Deck, von Kabine zu Kabine.
    Sie alle, die Zehntausend, von denen jeder schwer an seinem Schicksal trägt, an seiner Angst wie an seiner Hoffnung, zeigen plötzlich die Gesichter von Menschen, die alles überstanden haben …
    Die ›Cap Arcona‹ hat ihre erste Tote, eine namenlose junge Frau oder ein Mädchen, eine aus dem Strom der vielen, der Hunderte von Kranken, die nebeneinander geschlichtet im Lazarettdeck liegen und von Dr. Corbach betreut werden.
    Der Schiffsarzt ist schlank, klein; er sieht aus wie ein Gelehrter, den man zufällig in eine Uniform steckte; er trägt eine randlose Brille, die weder die Güte noch die Verzweiflung seiner Augen tarnt.
    Dr. Corbach sitzt an der Bahre der jungen Frau, beugt sich über sie, begegnet seinem alten Feind; er sieht ihn in dem schmalen Gesicht, das immer kleiner wird, auf dem Teint, der keine Farbe mehr hat, auf der Iris, die verblichen wirkt. Der Arzt sitzt da und erlebt sein uraltes Duell mit dem Tod. Er kennt ihn so gut, daß er ihn kommen hört, daß er ihn sieht, daß er die ganze Ohnmacht spürt, voller Haß auf einmal auf den Beruf, den er so liebt.
    Es ist eine sanfte Agonie, ein milder Todeskampf. Lungenentzündung, der Krankenhaustod. Kein Wunder, denkt Dr. Corbach. Man brachte die junge Frau mit einem Dutzend anderer zusammen, wegen Verletzungen, die sie im Gedränge erlitten hatte. Platzwunden nur, ganz harmlos, aber dazu eine verschleppte Erkältung, ausgewachsen zur Pneumonie. Hohes Fieber, rapider Verfall. Nichts zu machen, Exitus …
    Der Arzt müßte zu anderen gehen, bei denen es nicht aussichtslos ist, bei denen er seinen Urfeind verdrängen kann. Dr. Corbach steht auf. Er braucht Sekunden, um seinem Gesicht die Depression zu nehmen; er läßt die Schultern durchhängen, als hätte er versagt, nicht die Konstitution dieser Frau. »Stellen Sie fest, wie sie heißt«, sagt er zu seinem Assistenten, »lassen Sie anfragen, ob Angehörige von ihr an Bord sind … Wir haben keinen Platz, wir müssen …« Er deutet mit einer Handbewegung an, was mit der Verstorbenen geschehen wird.
    Einen Moment sieht er sich benommen um. Neben der Toten liegt eine andere Frau, die sich in das Leben hineinschläft. Der starre Ausdruck ist gewichen. Sie lächelt, als ob sie träumte. Kein Alptraum, eine Erinnerung an glücklichere Zeiten. Einen Augenblick stellt der Arzt fast betroffen fest, wie schön diese Patientin ist. Seine Augen gleiten über ihre kluge Stirn, über die vollen Lippen. Fünfundzwanzig, denkt er, höchstens dreißig. Ein Gesicht, das man nicht so leicht vergißt.
    Dr. Corbach geht weiter zum nächsten Patienten, dreht sich noch einmal um, betrachtet wieder Marion Fährbach, ihre dunklen Haare, diesen hübschen Rahmen zum schmalen Kopf.
    Als das Bewußtsein langsam zu Marion zurückkommt, stellt sie als erstes fest, wie weich sie liegt, weich und warm … umsorgt und umhegt wie damals, mehr als ihr lieb war, bewundert im Rampenlicht, im Beifall von Hunderten, der ihr als Frau wie als Sängerin galt, ihrem zarten, vollen Sopran mit dem schmelzenden Timbre. Sie trug ein dunkles, eng auf Taille gearbeitetes Samtkleid mit einem richtig bemessenen, ovalen Dekolleté.
    Das Publikum freilich war nicht so festlich gekleidet. Uniformen. Es war in Kiel, ein Abend

Weitere Kostenlose Bücher