Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Titel: Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
Vom Netzwerk:
Leute eben im Faltboot an Land.«
    Höchstens noch eine Stunde Fahrt. Noch halten die Turbinen durch, aber der Erste Ingenieur traut ihnen nicht mehr. Straff legt wieder den Donauwellen-Walzer auf. Keiner der 10.000 Flüchtlinge wird ihn jemals vergessen, diesen rhythmischen, schunkelnden, schleichenden Dreivierteltakt.
    Ein Sanitäter betritt das Funkdeck.
    »Willst wohl 'n Telegramm an die Braut aufgeben?« feixt Möhrenkopf.
    Der Mann wendet sich gleich an Straff. »Soll Sie von Dr. Corbach grüßen, Herr Kaleu, er bittet Sie …«
    »Und?«
    »Wir suchen ein Kind«, sagt der Sanitäter.
    »Trifft sich gut«, entgegnet der Funkmaat, »wir suchen 'ne Mutter.«
    »Vielleicht suchen wir dasselbe«, sagt Straff und nimmt dem Sanitäter den Zettel aus der Hand. Er liest: Fährbach. »Na, also …«, sagt er. Dann stutzt er. Marion Fährbach? Noch ein Zufall? Das gibt es doch nicht! »Komm mal her«, ruft er den kleinen Jürgen, »wir haben deine Mutti gefunden.«
    Der Junge klatscht vor Freude in die Hände.
    »Lass dich mal ansehen«, sagt Straff. Für ihn als typischen Junggesellen sehen alle Kinder gleich aus. Aber jetzt betrachtet er Jürgen, als sähe er ihn zum erstenmal, versucht, in den Augen, der Nase, dem Kinn eine Ähnlichkeit mit Georg, seinem alten Kumpel, festzustellen.
    »Ich nehme ihn gleich mit«, sagt der Sanitäter.
    »Nee«, erwidert der Funkoffizier, einer verschwommenen Eingebung folgend, »das besorge ich selbst.«
    Gerade als er mit Jürgen seine Funkbude verlassen will, wird er zum Kapitän gerufen. Dringend. Er übergibt das Kind Möhrenkopf und begibt sich fluchend auf die Kommandobrücke.
    Sein Kapitän betrachtet ihn starr und lange, als seien seine Augen blind.
    »Ich gratuliere Ihnen, Herr Kapitän«, sagt Christian Straff. »Sie haben 10.000 Menschen durchgebracht.«
    »Wir haben Glück gehabt«, erwidert Gerdts.
    Was will er bloß, überlegt Straff. Sein Blick ist heute noch müder, seine Stimme noch leiser, sein Gesicht noch mehr von der Zeit plissiert, seine Uniform scheint ihm seit dem Auslaufen aus Gotenhafen um das Doppelte zu weit geworden zu sein.
    Der Kapitän geht ganz dicht an seinen Funkoffizier heran. Er legt ihm flüchtig, fast verschämt die Hand auf die Schulter und sagt: »Wir sind alte Freunde, Straff, nicht?«
    »Jawohl, Herr Kapitän.«
    »Ich kann mich auf Sie verlassen?«
    »Selbstverständlich, Herr Kapitän.«
    »Sie gehen sicher an Land?«
    »Wenn es möglich ist, Herr Kapitän.«
    »Ich habe zwei Briefe … und ich habe eine Bitte … Besorgen Sie sie, geben Sie sie morgen auf. Tun Sie das?«
    »Selbstverständlich, Herr Kapitän«, erwidert Straff verwundert.
    Was ist los mit ihm?
    Er geht doch sicher selbst an Land. Und die Briefe kann er jedem anderen mitgeben, keiner wird vergessen, sie einzuwerfen. Die Verlegenheit zwischen den beiden Männern ist fast physisch zu spüren. Christian Straff will gehen, aber Kapitän Gerdts bittet ihn zu bleiben.
    Die Neustädter Bucht ist schon in Sicht. Die Fahrt ist geglückt, aber der Alte zeigt nicht einen Funken Freude oder auch nur Teilnahme. Er kreuzt die Hände hinter dem Rücken und sagt: »Schauen Sie sich das an … Unsere Passagiere früher, Mensch, Straff, auf einer Fahrt von Hamburg nach Rio durchquerten wir in 17 Tagen vier Jahreszeiten, mehr eine Modenschau als eine Schiffsreise … Wie viele Frauen, meinen Sie, sind wohl nur deswegen mit uns gefahren, damit sie ihre Kollektion vorführen konnten?«
    »Viele«, grinst der Funkoffizier.
    »Und jetzt … Schauen Sie sich diesen Laufsteg an, da draußen: Not, Dreck und Leid … Diese Zehntausend haben wir den Russen abgekauft, und wie viele Hunderttausend warten noch … Wie oft meinen Sie, Straff, schaffen wir noch so eine Fahrt?«
    »Ich weiß nicht«, versetzt der Funkoffizier dumpf.
    Wieder will er gehen, und wieder hält ihn der Alte zurück. Die ›Cap Arcona‹ hält in einigen hundert Metern Abstand vom Ufer. Fast gleichzeitig meldet der Erste Ingenieur, daß die Turbinen kaputt sind.
    »Mensch«, sagt Straff, »das ist ein Ding.«
    »Gut«, erwidert der Kapitän. Er gibt Straff die Hand. Auch das ist unüblich, betrachtet ihn, als ob er Abschied nähme.
    Der Funkoffizier spürt, wie ihm ein unbehaglicher Schauer über die Haut kriecht. Er will den Händedruck lösen, aber Kapitän Gerdts hält ihn noch ein paar Sekunden fest, sieht ihn dabei an wie ein Vater den verlorenen Sohn.
    Dann geht er, ohne etwas zu sagen, auf sein Schlafzimmer zu,

Weitere Kostenlose Bücher