Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Überall lauert der Tod, oben und unten, am Bug wie am Heck, mittschiffs wie an Steuerbord. Jeden Moment kann, muß einer dieser zischenden Todesaale die Stahlhaut des müden Kolosses zerfetzen.
Wieder wartet die grollende See auf ihre Opfer. Aber die Matrosen sind mit ihrer stöhnenden, hoffenden und sterbenden Fracht von 10.000 verwundeten Soldaten zu sehr beschäftigt, um Zeit für die Angst zu haben. Die ›Cap Arcona‹ fährt Kurs Kopenhagen, und das Glück, das sie noch immer hat, beginnt der eigenen Besatzung unheimlich zu werden …
Kurz nach dem Auslaufen suchte Oberstabsarzt Dr. Weidemann nach Gesunden der Blutgruppe B. Auf der Höhe von Swinemünde läßt er A 1 mit positivem Rhesus-Faktor ausrufen. Vergeblich. Der Verwundete, den eine Transfusion mit Sicherheit retten würde, verblutet langsam.
Es war die vierzehnte Operation oder vielleicht auch die siebzehnte, unter Umständen, die einen Arzt zum Mörder machen würden, wäre es hier nicht die letzte Hoffnung. Die anderen Mediziner bedrängen den Chef, sich ablösen zu lassen, und er erklärt sich zögernd bereit, für höchstens zwei Stunden, haut sich hin, kann nicht schlafen, obwohl er in jedem Muskel die Erschöpfung seines Körpers spürt. Seine Beine sind so dick angelaufen, daß er die Stiefelschäfte aufschneiden muß.
Dr. Weidemann schließt die Augen, aber er sieht die Parade des Todes am Kai von Gotenhafen wieder, sieht die Verwundeten, die an Bord starben, und sucht nach Fehlern, die er beim Sortieren der Schicksale machte.
Seit vierzehn Tagen ersetzt der Arzt Nahrung und Schlaf weitgehend durch kleine weiße Gifttabletten, und jetzt wüten sie in seinen Sinnen, lassen sie ihn nicht zur Ruhe kommen, rächen sich. Und dieser Arzt, ein Berufener in und trotz der Uniform, hofft heiß und töricht, daß dieses verdammte Schiff sinken möchte, denn nur der Tod aller – so meint er gehetzt – kann ihm die Verantwortung für den Einzelfall abnehmen.
Während der Mann, der mehr tat, als man von ihm verlangen konnte, von Pervitin und Gewissen zersetzt wird, meldet man Kapitän Bertram auf der Kommandobrücke, daß ein gespenstischer Schatten das Schiff verfolge. Die Nacht ist dunkel, sternenlos; aber trotzdem scheint sich über den rauhen See ein doch dunklerer Fleck abzuheben.
Der Kapitän starrt angestrengt durch das Nachtglas.
»Unsinn«, brummt er unsicher.
Auch die junge Krankenschwester, die bisher so tapfer durchhielt, hat sich erst auf Drängen ablösen lassen. Auch sie kann nicht schlafen. Unter den Lidern toben auf der Iris die Bilder des Grauens weiter. Luft, denkt sie, steht auf, verläßt das improvisierte Lazarett, geht weiter, erreicht das Sonnendeck. Die frostklare Luft sticht mit hundert Nadelspitzen in die Haut. Aber es tut gut, lenkt ab, beruhigt, macht den Atem schwer, ordnet die Gedanken …
Bisher erlebte sie alles wie in Trance, aber Kälte und Wind reißen sie in die Wirklichkeit zurück, nehmen die Distanz, vergröbern alles.
Ein Mann, den sie bisher nicht sah, zündet sich eine Zigarette an.
»Wollen Sie auch eine, Schwester?« fragt er.
»Wie?« antwortet sie erschrocken. »Nein, danke.«
Sie erkennt den hochgewachsenen Seeoffizier mit dem knappen Gesicht, der den Sterbenden an Bord trug und dessen Augen sie ein paar Sekunden lang begegnet war.
»Straff«, sagt er.
Die Schwester erwidert nichts.
Der Funkoffizier merkt, daß sie friert. »Kommen Sie«, sagt er. Sie weiß nicht, warum sie ihm folgt. Es sind nur ein paar Schritte. Christian Straff reißt die Tür seiner Funkbude auf und ruft warnend: »Besuch!«
Funkmaat Möhrenkopf grinst so dämlich wie eindeutig. Er sitzt vor der Flasche mit der trüben Farbe, dem gleichen Fusel, mit dem die Wehrmacht zu besseren Zeiten die Kampflust der Infanteristen vor dem Angriff anzuheizen pflegte.
»Setzen Sie sich einen Moment«, sagt Christian Straff, »wärmen Sie sich auf … Wie heißen Sie?«
»Jutta.«
»Nehmen Sie 'nen Schluck, Schwester«, sagt Möhrenkopf und kommt mit unsicheren Schritten auf sie zu.
Jutta nippt aus Höflichkeit. Die Anspannung kann der Harmonie dieses Gesichts nichts nehmen, nicht den geschwungenen Mund, nicht den intensiven Blick, nicht die feine Linie des Nackens.
Christian Straff hat sich von allem, was Leben heißt, längst losgesagt. Aber jetzt, da er das Mädchen betrachtet, spürt er ärgerlich den Wunsch, aufzustehen, Jutta an sich zu ziehen, den Arm um ihre Schultern zu legen.
Er merkt, daß er sie dumm betrachtet,
Weitere Kostenlose Bücher