Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
daß sein Blick an ihr hinabgleitet, langsam wie eine Kamera, daß er inmitten dieses Saustalls feststellt, wie hübsch ihre Beine sind, und einen Moment lang davon träumt, ihr gefährliche, törichte Worte zuzuraunen, mit ihr zu tanzen, sie zu umwerben, sie zu küssen …
Jutta weiß nicht, warum sie hier sitzen bleibt. Aber in dem Schiff, auf dem die Menschen, Kranke und Gesunde, wie in eine Konservenbüchse eingeklemmt sind, gibt ihr das Funkdeck eine Illusion von weitem Raum, von Großzügigkeit, von Friedensinsel.
»Kennen Sie Kopenhagen?« fragt Möhrenkopf.
»Nein«, entgegnet Jutta.
»Das Tivoli?« erläutert der Funkmaat, und auf seinem im spitzen Kegel zum Kinn zulaufenden Gesicht tobt sich ein ganzer Rummelplatz aus. »Das war einmal die höchste Vergnügungssache in ganz Europa … da ist die Reeperbahn ein Dreck dagegen … und da fahren wir jetzt hin … und da werden wir …«
»Lass den Quatsch!« unterbricht ihn Christian Straff. Dann wendet er sich an die Schwester: »Sie sind noch so jung … Wie kommen Sie zu dieser Arbeit?«
»Freiwillig«, erwidert sie ohne Betonung.
In diesem Moment identifiziert Kapitän Bertram auf der Kommandobrücke den geisterhaften Schatten knapp hinter seinem Heck endgültig als einen möglichen Verfolger. Er telefoniert mit dem Leitenden Ingenieur: »Schaffen wir äußerste Kraft?«
»Vielleicht … und keinesfalls lange.«
Der Kommandant zögert. Hetzt er die Turbinen, besteht Gefahr, daß sie endgültig platzen wie faule Eier. Wehrt er sich nicht gegen den Schatten an seinem Heck, knallt ihn ein russisches Kriegsschiff schon mit dem ersten Schuß ab.
»Besser Panne als Untergang«, erläutert Bertram dem LI, als er den Befehl gibt, im Zickzack-Kurs die ›Cap Arcona‹ auf Biegen oder Brechen zu fahren.
Ist der Schatten eine Realität, verfolgt er uns weiter, sagt sich der Kapitän, dann habe ich ohnedies nichts zu verlieren. War er eine Fata Morgana, sind die Nerven beruhigt, und wir können wieder gemächlich weiterzuckeln …
Im Funkdeck merken Christian Straff und sein Maat Möhrenkopf fast gleichzeitig, daß der Teufel los ist. Einen Moment duckt sich der graue Kasten wie zum Sprung, dann schießt er nach vorne, bricht nach links aus und wird vom plötzlichen Ruderausschlag wieder nach rechts geworfen, schaukelt noch ein paarmal hin und her wie ein Kinderpferd. Dann zeigt die ›Cap Arcona‹, was sie konnte, als sie noch jung war …
»Gleich gehen wir baden«, sagt Möhrenkopf. Über sein verkniffenes Gesicht irrlichtert die Angst.
»Ist etwas …?« fragt Jutta.
»Nehmen Sie noch 'nen Schluck«, ruft ihr der Funkmaat zu, der Straffs warnenden Blick absichtlich übersieht. »Besser Schnaps als Salzwasser.«
Dann ist es still. Ein U-Boot, überlegt der Funkoffizier. Zickzack, letzter Ausweg. Das bei Überbelastung, bei geflickten Turbinen. Gut Nacht! Vorbei. Amen. Endlich …
Die ›Cap Arcona‹ fährt auf die andere Seite herum. Ihr Kiel schießt wie ein Spieß durch die Dünung. Gleich, jetzt, denkt Möhrenkopf, warum gehen wir nicht hoch? Vorbeigegangen, der beschissene Aal. Der nächste trifft, und wenn nicht der, dann der übernächste …
Christian Straff sitzt neben Jutta. Er denkt nicht mehr an ihre Beine, als er seinen Arm um ihre Schultern legt. Er will sie trösten, beruhigen, wie den Sterbenden, den er an Bord schaffte, will ihr die Angst vor dem letzten Kampf nehmen, solange er kann.
Während die ›Cap Arcona‹ um ihr altes Leben läuft, stellt Straff fast verwundert fest, daß er den Duft von Juttas Haut riecht und den Geruch ihrer Haare mag, und merkt, wie sie zu ihm aufsieht, sich an ihn lehnt, wie das vage Lächeln wieder über ihren Mund spielt, wie ein Hauch von Leben, eine Andeutung von Liebe …
»Lauter Blindgänger!« knurrt Möhrenkopf, setzt die Flasche an den Mund, trinkt, daß ihm der Fusel rechts und links den Hals hinabrinnt. »Schöne Pflaumen, diese Dreckrussen!«
Noch immer versucht die ›Cap Arcona‹ vergeblich, den Verfolger abzuschütteln. Kapitän Bertram weiß, daß ein Schiff hinter ihm ist und kein Schatten. Beinahe jede Minute warnt der Leitende Ingenieur. Falls es die Turbinen nicht zerreißt, besteht noch eine andere Gefahr … Äußerste Kraft heißt auch: höchster Ölverbrauch. Das Schiff ist schon knapp an der Mindestreserve und verhungert auf offener See, falls Bertram weiter auf Hochtouren kreuzt.
Er verschiebt die Entscheidung um eine Minute, sieht mit zusammengepreßten
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