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Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Titel: Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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Lager schwebt.
    Oberstabsarzt Dr. Weidemann schuftet, bis er umfällt, aber das ändert nichts daran, daß ihm die Verwundeten im Dutzend unter der Hand sterben. Er ist machtlos dagegen, daß sie während der langen Wartezeit erfrieren oder verbluten.
    Er hat sich mit Drogen hochgeputscht. Er schreitet scheinbar unbeteiligt durch Blut, Eiter und Leid. Er verflucht den Tag, an dem er den Eid des Hippokrates leistete, denn er weiß, daß mit dem Anlegen der ›Cap Arcona‹ für ihn erst das Schlimmste kommt: der Platzmangel auf dem Schiff. Die Notwendigkeit einer raschen, reibungslosen Einschiffung macht diesen Oberstabsarzt zum Herren über Leben und Tod der ihm anvertrauten Menschen …
    So steht er da, haßt sich selbst und sortiert Schicksale wie Fallobst. Nach links werden Verwundete abgedrängt, die aus eigener Kraft noch humpeln oder kriechen können. Sie müssen sich und ihren zerschossenen Körpern selbst überlassen bleiben, und das ist noch nicht das schlimmste Los, das diese Zeit des Untergangs zu bieten hat.
    In der Mitte liegen zu Hunderten massiert Soldaten, die bei ärztlicher Betreuung noch eine bemessene Chance haben, die freilich von der Platznot auf dem Schiff rationiert wird. Im besten Fall die Hälfte, schätzt Dr. Weidemann und erweist sich dadurch selbst noch in einer illusionslosen Hölle als Optimist …
    Rechts stellt man die abgemagerten, farblosen Gestalten ab, die uniformierte Samariter dem Tod aussetzen müssen wie primitive Urvölker kleine Kinder … Und der Götze, dem das vielfache Menschenopfer gilt, heißt Krieg und liegt wieder einmal selbst im Sterben …
    Der Oberstabsarzt gibt zwei Sanitätern einen Wink, den Landser, den er gerade untersuchte, zu den hoffnungslosen Fällen zu tragen. »Keine Angst, mein Junge«, sagt er zu dem Mann, der ihn mit großen, schwimmenden Augen ansieht, »höchste Zeit, daß du in eine warme Stube kommst … Wir müssen dich aufpäppeln für den Transport … Bis dahin liegst du in einem Bett … und dann sind wir wieder da.« Er sieht, wie der Verwundete mit barbarischer Kraft noch etwas sagen will und beugt sich noch einmal zu ihm hinab.
    »Nicht sprechen … Es ist gefährlich. Aber du kommst weg … Verlass dich auf mich.«
    Der Arzt schmeckt den Speichel wie Galle im Mund, und das kommt davon, daß er hier kaum mehr tun kann, als Sterbende in den Tod hineinzulügen. Manche glauben ihm und werden von einer letzten Illusion verklärt. Andere erleben mit offenen Augen, welche Ungeheuerlichkeit sich an ihnen vollzieht. Dazwischen immer wieder schrille Schreie, stumpfes Stöhnen und die rohen Flüche der Sanitäter, die fürchten, um den Verstand zu kommen, wenn sie kein Ventil gegen dieses Inferno finden. Manchmal wünschen sie sich selbst auf die Bahre und glauben, es sei erträglicher, still zu krepieren als Hilflose hier liegen zu lassen, die sich mit dem letzten Rest Leben, mit dem letzten Wahn Hoffnung, mit dem letzten Tropfen Blut an sie klammern …
    18 Grad minus. Die Temperatur ist über Nacht nach unten geschnellt wie ein gerissenes Seil. Der Ledermantel des verantwortlichen Arztes am Landeplatz ist steif wie Blech. Sein fleischiges Gesicht ist vom Frost gerötet; seine Lippen sind ein gerader, schmaler Strich, und wenn sie sich zu hastigen, halbverschluckten Befehlen öffnen, spucken sie die Order aus wie Sand. Jede Weisung ist eine Entscheidung, gegen die es keine Berufung gibt, obwohl sie in jedem Fall ein Leben kosten wird …
    Auch Christian Straff, der Funkoffizier, der ohne Befehl und selbstverständlich wie alle anderen Mitglieder der Stammbesatzung die Verwundeten an Bord schafft, versteht nicht viel von medizinischen Dingen. Aber er begreift, daß jeder Verwundete, der an Bord kommt, mit dem Leben eines zurückbleibenden Kameraden bar bezahlt. Und trotz der Kälte spürt er, wie ihm das Mitleid mit dem Oberstabsarzt über den Rücken kriecht und sich in jeder Pore der Haut festsetzt. Er sieht den Schiffsarzt Dr. Corbach, der sich im Hintergrund hält, nach oben starrt und eine Sekunde lang die Hände ausbreitet, als könnte er so den Frevel bannen.
    Maat Möhrenkopf faßt oben an, Christian Straff langt unten zu. Der Junge, den sie wegtragen wollen, ist achtzehn, an beiden Oberschenkeln amputiert. Er hat ein wächsernes, eingefallenes Gesicht, und er sieht aus wie tot, obwohl er noch sterben muß. Einen Moment zögert der Funkoffizier. Dann sieht er in die Augen, an deren Wimpern Tränen zu Eisperlen gefroren sind,

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