Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Lippen, wie der drohende Verfolger wieder hinter ihm hängt, jede Schiffsbewegung mitmacht, genauso schnell wie die ›Arcona‹, daß es keine Chance gibt, ihn abzuschütteln.
»Läufer!« ruft der Kapitän.
Im Funkdeck trinkt Christian Straff jetzt auch mit. Selbst das Mädchen überredet er, einen Schluck zu nehmen.
»Diese Säue«, heult Möhrenkopf, »die das verbrochen haben, diese Goldfasane!«
»Er spinnt«, versucht Straff die junge Krankenschwester zu beruhigen.
»Ich schwöre«, ruft der Maat außer sich, »wenn ich das überlebe, allein steche ich sie alle ab … Mit den Händen erwürge ich diese braunen Schweine! Du vielleicht nicht?« fährt er Straff an.
»Ich auch«, versetzt der Funkoffizier grimmig, »aber alles zu seiner Zeit.« Er sieht das betroffene Gesicht Juttas, die flimmernde Angst in den hellen Pupillen und bringt mit einem harten Rippenstoß den Maat endlich zum Schweigen.
Dann tritt der Läufer ein, mit dem Befehl, die Funkstille zu durchbrechen und dem Oberkommando der Kriegsmarine zu melden, daß die ›Cap Arcona‹ ein verfolgendes Schiff nicht abschütteln kann.
Es ist ein Selbstverrat, der dem Schiff ein ganzes Rudel russischer U-Boote auf den rostigen Leib hetzen kann. Aber diese Gefahr wird dem Kapitän erst bewußt, als er Minuten später die Antwort hat, bei deren Entschlüsselung selbst der besonnene Straff flucht wie ein Roßkutscher: Der Schatten ist ein deutsches Schiff, ein kleiner Flüchtlingspott, den zu avisieren die Herren vom OKM vergessen hatten …
Die ›Cap Arcona‹ fährt wieder auf altem Kurs in gemächlicher Fahrt.
Jutta, die Krankenschwester, steht auf.
»Ich bringe Sie hin«, sagt Christian Straff.
Sie gehen schweigend zum Behelfslazarett.
Plötzlich spricht das Mädchen wie unter einem Zwang: »Sie wollen wissen, warum ich mit dreiundzwanzig Jahren mich hierher gemeldet habe? … Ich kann es Ihnen sagen: Mein Vater gehört zu den Leuten, die Sie … nach dem Zusammenbruch umbringen wollen … Verstehen Sie?« Sie spricht mit der hellen, aufgezogenen Stimme eines Kindes. »Ja«, fährt sie fort, »meine Mutter ist daran zerbrochen … Ich war im Internat … aber sie wohnte am Rand des Lagers und sah, was … was dort los war … Sie ließ sich scheiden, und ich meldete mich … Nun wissen Sie …«
Christian Straff bleibt betroffen stehen, während Jutta in ihrem Deck verschwindet. Jetzt begreift er ihre Worte und denkt bitter: Wenn man früher mit einer Sache nicht fertig wurde, ging man ins Kloster, heute ins Frontlazarett. Er bewundert und verwünscht das Mädchen, denn jetzt kommt ihm ein Gedanke, der alles frißt: die Sorge um Georg Fährbach. Und der heiße Wunsch, daß der Freund die Lagerhölle überleben möge, läßt ihn erst erkennen, wie sehr und wie selbstlos er Marion, dessen Frau, liebt …
Nichts Neues in Neuengamme: Der Kommandant des KZ-Lagers am Stadtrand von Hamburg wartet auf den Befehl zur Maßnahme X, der Sprengung der Baracken mit Tausenden von Häftlingen. Die heimliche Lagerleitung fiebert der Stunde Y entgegen, der Überrumpelung der Totenkopf-Wachen durch einen von Georg Fährbach, früher Kapitänleutnant zur See, heute Häftling Nr. 8.773, geführten Stoßtrupp der Verzweiflung.
Der frühere Marineoffizier ist weiterhin auf Schreibstube und gehört zu jener Handvoll entschlossener Männer, die verhindern will, daß eine Herde menschlicher Wracks unmittelbar vor Torschluß noch ermordet wird.
Der Lagerhaftführer, Obersturmführer Krappmann, ist weiterhin ein mörderischer Sadist, Hauptscharführer Dreiling gefährlich gönnerhaft, und Unterscharführer Heinrichs, Georg Fährbachs unmittelbarer Chef, steht in der Mitte: Er ist unter den Bewachern nicht der Übelste, aber damit noch immer übel genug für jedes Zuchthaus …
Inzwischen gab es täglich Wassersuppe mit Steckrüben und Hass. Inzwischen begann in der Quarantänebaracke die Teilliquidation der Häftlinge. Zuerst sollten Menschen sterben, die ohnedies zum Leben keine Chance mehr hatten: Frauen, Männer und Kinder, die mit Typhusbakterien und anderen Todesbazillen zwecks medizinischer Versuche geimpft worden waren, unter ihnen der kleine, tapfere Bibelforscher Kaulbach.
Die Gesichter ihrer Peiniger wurden für die Häftlinge zu Landkarten, auf denen sie ablasen, wie weit die alliierten Truppen schon nach Deutschland vorgestoßen waren, und die länger werdenden Linien in den Visagen schienen Fährbach wie Fähnchen, die den Vormarsch der
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