Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
sieht die Bitte, die Verzweiflung, das Flehen, erfaßt intuitiv, daß der Junge, den der Jugendschutz vielleicht noch nicht ins Kino ließ und den die Wehrmacht doch zum Heldentod delegierte, an zu Hause denkt, an die Mutter vielleicht, an die Schwester, den Vater … Und daß alle Kraft und alles Leben und jegliche Vitalität auf diesen verschwommenen, fast lichtlosen Pupillen glänzt.
»Los!« faucht Christian Straff den Funkmaat an.
Oberstabsarzt Dr. Weidemann richtet sich von einem Verwundeten auf. »Spritze!« sagt er zu der im Hintergrund stehenden Schwester.
Er sieht sich einen Moment um. Er kämpft mit dem wahnwitzigen Gedanken, die hoffnungslosen Fälle mit Morphium zu töten. Während er überlegt, irrlichtert der Wahnsinn über sein Gesicht. Dann hängen seine Schultern wieder durch, denn der Mangel an Präparaten erlöst ihn aus der Not des Gewissens.
Er sieht sich benommen um. Sein flüchtender Blick erfaßt Christian Straff und den Maat. Er geht auf die beiden zu. »Den doch nicht!« brüllt er Straff an.
Der Funkoffizier betrachtet den Arzt, als sei er eben geschlagen worden.
»Hat doch keinen Sinn!« ruft Dr. Weidemann.
Christian Straff betrachtet den Jungen, liest aus dem verfallenen, starren Gesicht, in dem die Augen noch immer leben – und weiß Gott wie leben! –, daß der Junge sein Todesurteil verstanden hat.
»Der geht an Bord!« erwidert der Funkoffizier.
»Lassen Sie ihn gefälligst hier!« brüllt der Oberstabsarzt.
Dr. Corbach, der Schiffsarzt, sieht die Szene und kommt mit schleppenden Schritten, den Kopf tief zwischen die Schultern gezogen, näher. Straffs Augen bitten um Hilfe. Dr. Corbach möchte es, sieht den Jungen, zögert.
»Nehmen Sie doch Vernunft an!« schreit Dr. Weidemann, noch immer erregt.
»Dieser Verwundete kommt an Bord«, sagt Christian Straff zum zweitenmal. Seine Stimme droht wie seine Augen. Seine Worte verlieren sich in der frostkalten Luft …
»Sind Sie vielleicht der Arzt?« brüllt Dr. Weidemann.
»Nein, aber ein Mensch«, erwidert Straff. Er trägt den Verwundeten mit klarer Befehlsverweigerung weiter, auf die Gangway zu, während Dr. Corbach nachgeht und ihm leise zuraunt: »Hoffnungslos.«
»Das ist mir egal!« schreit Christian Straff. Seine Stimme überschlägt sich. »Hoffnungslos ist hier alles … Ich scheiß' auf eure Hoffnungslosigkeit!«
Die Schwester hinter Dr. Weidemann dreht sich nach Straff um. Ihre Blicke begegnen sich: Augen von Lebenden, inmitten der Sterbenden. Und während der Funkoffizier die Bahre mit der leichten schweren Last einen Augenblick absetzt, ist er der Kälte, dem Grauen, dem Tod entrückt … sieht er nur ein junges Mädchen von 20 oder 25 Jahren, mit dunklen Haaren und hellen Augen, mit einem zarten, feinen Gesicht, in das sich das Leben noch nicht eintragen konnte, obwohl diese Schwester von der Nachtseite des Lebens mehr sah, als einem Menschen zuzumuten ist … Und in der Raffung einiger weniger Sekunden lächeln sich die beiden zu wie Königskinder, die den Strom nicht überschreiten können, in dem sie ertrinken werden. Und das Lächeln taut ganz langsam ihre froststarren, müden Gesichter auf. Sie sind zaghaft und schön, traurig und verzweifelt … diese fünf Sekunden Pause im grausamen Chaos. Dann beugt sich Christian Straff wieder nach der Bahre.
»Wohin?« fragt Möhrenkopf.
»Egal.«
Ein Lazarettdeck gibt es nicht mehr. Das ganze Schiff ist ein schwimmendes, untaugliches Krankenhaus. Keine Operationssäle, keine sanitären Einrichtungen, keine Medikamente, keine Verpflegung. Betreuung ist Zufall. Um einem zu helfen, muß man einen anderen treten. Wer stirbt, wird über Bord geworfen. Formlos. Und die es tun, Menschen, die eben noch anderen Menschen halfen, sind einen Moment lang froh des gewonnenen Platzes, bis ihnen die Ungeheuerlichkeit bewußt wird und sie weiterschuften und sich schämen …
Irgendwo setzt Christian Straff den Verwundeten, den sein Mitleid und sein Unverstand retteten, ab, und er sieht noch einmal in das Gesicht des Jungen, will ihm ein paar gute, beruhigende Worte zuflüstern, bemerkt einen letzten Glanz und eine zärtliche Dankbarkeit auf der brechenden Iris, erfährt in diesem Moment, daß er einen Toten gerettet hat.
Aber der Junge zählt für ihn mehr als die Lebenden, denn Christian Straff half ihm wenigstens sterben … und viel mehr können sie hier ohnedies nicht tun …
Es ist, als wüßten die morschen Turbinen der ›Cap Arcona‹, um was es geht.
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