Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Mal.
»Fünfundzwanzig«, sagte er. Auch seine Unterlippe blutete. Seine Schneidezähne hatten sich hineingebissen.
»Lass mal sehen«, sagte Dreiling lachend, »hübsch sieht er aus, dein Hintern … Mensch, für so einen dummen Heini läßt du dich … Na, mir soll's recht sein.« Er war zufrieden für heute, ging in seine Unterkunft, um seinen Rausch auszuschlafen.
Gegen Mittag wußte Fährbach, daß sich die 19 Schläge für ihn rentiert hatten. Er war in die innere Gemeinschaft der Häftlinge aufgenommen worden, denn schließlich ließ sich kein Spitzel freiwillig halb totschlagen.
Am Abend sprach ihn ein Häftling von der Lagerleitung an, den Georg Fährbach noch nie gesehen hatte.
»Du bist in Ordnung«, sagte er, »aber lass diese Dummheiten … Wir brauchen Leute wie dich, und solche Burschen brauchen ihre Kraft … für uns alle, verstanden?«
»Ja«, erwiderte Fährbach.
»Ich lass' dich morgen in die Schreibstube versetzen … Mach Augen und Mund auf … Wir sind nicht so schwach, wie du denkst.« Der Mann lächelte hintergründig. Nach einigen Wochen konnte Fährbach es auch deuten.
Er lernte den englischen Major kennen, den französischen Arzt, den italienischen Pfarrer und den holländischen Widerstandskämpfer, die die heimliche Macht im Lager ausübten und die die Erhebung der vielen tausend Sklaven vorbereiteten. Die entschieden, wen man zugrunde gehen ließ und wer geschützt werden mußte, und die wußten, daß die Zeit des Dritten Reiches abgelaufen war, die sich nicht in den letzten Tagen des Krieges wie Schlachtvieh hinmorden lassen wollten und deshalb minutiöse Pläne für den Aufstand ausgearbeitet hatten.
Die Häftlinge wußten, daß das Lager unterminiert war, und sie waren entschlossen, es nicht hochgehen zu lassen.
Über das Rote Kreuz erhielten sie Liebesgaben und verteilten sie so, daß die Leute, auf die es ihnen ankam, Männer vom Schlage Fährbachs, durch Zusatzverpflegung in Form blieben. Hier, im Führerkader des KZs Neuengamme, kannte man die militärische Lage genau.
Wenn die englischen Truppen näher auf Hamburg marschierten, sollte der britische Major, Häftling Nummer 3.891, auf einem sorgfältig vorbereiteten Fluchtweg seiner Armee entgegengeschickt werden und um Hilfe für das Lager bitten.
Fährbach erhielt den schwierigsten Auftrag: Er sollte den Stoßtrupp leiten, der auf ein Stichwort hin nachts in die Unterkünfte der SS-Bewacher eindringen und sie mit ihren eigenen Waffen niederknallen mußte.
Er las die Berichte, notierte in seinem Gedächtnis die Namen und Verbrechen der Totenkopfleute. Er las die geheimen Fernschreiben Himmlers und gab sie weiter. Fährbach war schlau, gerissen, machte keinen Fehler, und er wartete auf den Tag mit Inbrunst, an dem er mit diesen Henkern fertig werden würde, und müßte er mit der bloßen Hand gegen sie angehen.
Ein Geheimbefehl war eingetroffen.
Häftling Fährbach mußte warten, bis der Schreibstubenälteste zu Tisch gegangen war. Dann hatte er das Schreiben in der Hand.
Sie zitterte, als er las, daß auf Befehl Himmlers dem Feind kein Häftling lebend in die Hände fallen durfte, daß die Anlagen der KZs zu sprengen und alle Spuren konsequent zu verwischen seien.
Georg Fährbach wußte wie jeder andere, daß es in Tagen oder Wochen schon soweit sein würde, dachte an Marion und Jürgen, setzte auf den Aufstand, fürchtete den Untergang und preßte alles das zusammen in den heißen, übermächtigen Willen zu überleben.
Kurze Zeit später – am gleichen Tag, an dem es dem Häftling Fährbach gelang, einen Brief an seine Frau Marion aus dem Lager zu schmuggeln – begann Obersturmführer Krappmann, die Gefangenen des Lagers Neuengamme bei Hamburg systematisch zu liquidieren.
Im Morgengrauen erreicht die ›Cap Arcona‹ als schleichender grauer Koloß wieder die Kaianlagen von Gotenhafen, als sei das ehemalige Flaggschiff der Hamburg-Südamerika-Linie ausgenommen vom erbarmungslosen Massentod in der blutigen, vereisten und vom Feind beherrschten Ostsee.
Wieder ist der riesige, unbewaffnete Pott die letzte Hoffnung von Menschen, die zu Hunderten, zu Tausenden am Pier auf den Abtransport warten. Diesmal stehen sie nicht, sie liegen. Schlagen nicht wütend mit Armen und Beinen um sich, um an Bord zu kommen: Viele haben Arme und Beine verloren, liegen frisch amputiert mit durchbluteten Verbänden unter grauen Decken. Und die Disziplin, die sie normt, ist der Schatten des Todes, der über ihrem trostlosen
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