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Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Titel: Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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Null …
    Aus dem Lautsprecher dröhnt flotte Marschmusik. Plötzlich bricht sie ab.
    Weniger zackig, aber noch immer markant, verliest ein Sprecher den Wehrmachtsbericht.
    »Hosen runter!« fordert der Matrosengefreite den Funkmaat auf, seine Karten auf den Tisch zu legen.
    »… mußten die deutschen Truppen trotz heldenhaften Widerstands Danzig, Gotenhafen und die Halbinsel Heia räumen …«, sagt die Stimme aus dem Äther.
    »Schreib mir sechsundvierzig Gute auf«, ruft Möhrenkopf, der Funkmaat.
    Kapitän Bertram verläßt mit müden, schlürfenden Schritten das Mannschaftsdeck. Also aus, denkt er, vorbei, nichts mehr zu machen. Hätte man mir vor ein paar Tagen Öl gegeben, dann … Er reißt den Gedanken entzwei wie eine Schnur.
    Als am nächsten Morgen ein Tanker anlegt und ein paar hundert Tonnen Öl in den rostigen Bauch der ›Cap Arcona‹ pumpt, kann sich Kapitän Bertram nicht mit dem Gedanken trösten, daß sein Schiff immerhin fast 20.000 Menschen gerettet hat.
    Er denkt nur an die Hunderttausende, die wartend von dem Sturm der Roten Armee überrollt werden …
    14. April 1945: KZ Neuengamme, am Stadtrand von Hamburg, 16 Uhr: Noch zwei Stunden. Häftling Nummer 8.773, alias Kapitänleutnant Georg Fährbach, braucht nicht mehr auf die Uhr zu sehen. Seine Nerven nehmen die Zeit. Die Zeit ist bemessen: 120 Minuten Leben bis zum Sterben. Das Leben ist vorbei und der Tod sinnlos. Der Tod kommt in 7.200 Sekunden, nach etwa 14.400 Herzschlägen, denn der Puls ist beschleunigt.
    Der Tod ist sicher, die Stunde ungewiß, lernte Georg Fährbach in der Schule. Die Phrase ist falsch, wenigstens für ihn. Seine Stunde schlägt um 18 Uhr. Der Häftling weiß auch, wie er sterben wird: Meldet er sich nicht freiwillig, werden sie ihn holen. Dann heißt es: Ärmel hoch zum Mord! Arm ausstrecken! Der Kanüle entgegen. In der Kanüle ist Luft, nichts weiter. Man spritzt sie in die Blutbahn. Die Blase erreicht das Herz, sprengt die Kammer. Embolie, heißt das medizinisch.
    Ein abscheulicher Tod, der den Vorteil hat, daß er den Henker nichts kostet. Ein Tod, umsonst und vergeblich, denn das Leben des kleinen, tapferen Bibelforschers Kaulbach, an dessen Stelle der frühere Marineoffizier Fährbach sterben soll, ist ohnedies durch Typhusbazillen bemessen.
    Keiner kümmert sich um den Häftling Nummer 8.773. Die meisten haben von ihrem eigenen Schicksal genug. Die heimliche Lagerleitung, der Gehirntrust, hat kein Verständnis für Fährbachs Haltung. Opfer sind nur nötig, so meint der Kommunist Melber, wenn sie auch nützlich sind.
    Als ihm Fährbach alles ins Gesicht schrie, daß die Zeit aus ihm einen Zuchthäusler und das System einen Zebrasklaven gemacht habe, daß er sich aber nicht noch zu einem Mörder degradieren ließe, war die heimliche Lagerleitung fertig mit ihm: Kein Platz im KZ für Theater-Coups …
    Noch 116 Minuten. Die Hitze im Körper Fährbachs schlägt um in Frost. Als Soldat kennt er den Tod – und fürchtet ihn nicht besonders.
    Aber da er Marion hat, foltert ihn die Angst. Jeder Gedanke ist ein Stich. Es kommt ihm vor, als ob er seine Frau und seinen Jungen zum zweitenmal unnötig verraten hätte.
    Besonnen wollte er sein, überleben wollte er, mit diesen seinen Händen wollte er seinen Henkern an die Gurgel fahren: Er hatte gewußt, daß der Weg in die Freiheit nur durch eine Hölle von Schmutz, Blut, Dreck, Brutalität und Gemeinheit führen könnte.
    Und jetzt? Hat Melber recht? Fehlt es ihm an der Dialektik? Ist in ihm noch ein Rest Offizier, den er totschlagen müßte wie einen tollwütigen Hund? Verkrampfte Haltung? Kintopp-Pathos?
    Es könnte Georg Fährbach gleichgültig sein, gäbe es Marion nicht.
    Und so kommt die Versuchung. Acht Typhushäftlinge in der Quarantänebaracke müssen sterben. Wenn er sie nicht tötet, tut es ein anderer. Dann sterben neun, darunter ein Gesunder. Er ist Marions Mann. Marion ist eine wunderbare Frau mit einer schmalen Figur, mit dunklen Augen, mit einem vollen Mund, eine Frau mit einer weichen, hellen Haut, mit einer überströmenden Zärtlichkeit, eine Frau, für die es nur ihn gibt, den Häftling Nummer 8.773 des KZ Neuengamme.
    Georg Fährbach geht durch's Lager wie gehetzt. Er schleicht um die Quarantänebaracke. Er preßt die Kiefer aufeinander. Er sagt sich, daß er den Befehl des Sadisten, des Obersturmführers Krappmann, ausführen wird und daß ihm niemand, nicht einmal die getöteten Kameraden, einen Vorwurf machen können. Er steigert sich

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