Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
seiner letzten Fahrt aus dem Hafen von Kopenhagen ziehen, und wieder spielt keine Musikkapelle und winkt keine Hand …
Nach Wochen einer sinnlosen Wartezeit erging an Kapitän Bertram ganz plötzlich der neue Einsatzbefehl, sich an der Küste entlang nach Süden durchzuschlagen und in der Bucht von Neustadt sich für weitere Order zur Verfügung zu halten.
Ausgerechnet dieses untaugliche Hafenbecken, denkt der Kommandant ergeben, in dem sich die ›Cap Arcona‹ wegen ihres zu großen Tiefgangs zweieinhalb Meilen vom Ufer entfernt halten muß, wie eine zu große Fuhre vor einer zu kleinen Scheune …
Christian Straff, der hochgewachsene Funkoffizier mit dem knappen Gesicht und den kühnen Augen, war an Land gewesen. Als er von Jutta, der Lazarett-Schwester, zurückkam, stellte er fest, daß die Feuer in den Kesseln seines Schiffes angeblasen waren.
Er stand an der Reling und betrachtete die dänische Hauptstadt, die äußerlich ein ruhiges Bild bot. Aber die Straßen und Plätze wirkten wie dünne Kulissen, hinter denen der Wechsel der politischen Szene vorbereitet wurde.
Die Wehrmachtseinheiten fuhren Richtung Süden, wie zufällig, in die Nähe der deutschen Grenze. Offiziere der Verwaltung und auch der Polizei trugen schon Zivil. Die Menschen auf der Straße erörterten in Gruppen die militärische Lage. Es konnte nur eine Frage von Tagen sein, bis die Alliierten dänischen Boden erreichten und Kopenhagen in einen brodelnden Hexenkessel verwandelten, in dem Sieg, Vergeltung, Hass und Rausch gar gekocht wurden. Wie immer die Dänen, denen so viel Leid zugefügt worden war, sich benehmen würden, immer hieß es: vae victis …
»Gnade Gott den Besiegten«, sollte es für Jutta nicht heißen. Deshalb wandte sich Christian Straff an den Schiffsarzt Dr. Corbach, seinen väterlichen Freund. Entgegen seiner Art war er verlegen und kam auf Umwegen.
»Was ist denn, Christian?« fragte der Mann mit der randlosen Brille, die seine natürliche Wärme und Güte nicht tarnen konnte. »Wo drückt's?«
»Die Sache ist die …«, begann der Funkoffizier.
»Was willst du?« unterbrach ihn der Arzt.
»Können Sie nicht eine … eine erstklassige Krankenschwester an Bord gebrauchen?«
»Natürlich.«
»Nicht, daß Sie denken, Doktor … wegen persönlicher Be…«
»Ich bin bereit, jeden mitzunehmen, ob du zu ihm nun persönliche Beziehungen hast oder nicht, verstanden?«
Christian Straff hatte seine Lektion erhalten und wollte sich bedanken, aber Dr. Corbach hatte keine Zeit für ihn. Einer der 80 Matrosen eines an Bord genommenen Sonderkommandos hatte Blinddarmreizung und mußte unter Umständen operiert werden.
So ist, als die ›Cap Arcona‹ die freie See erreicht, Jutta von Dr. Corbach angefordert und in einer Erste-Klasse-Kabine etabliert. Als die ›Cap Arcona‹ die halbe Strecke ohne Zwischenfall hinter sich hat, überwindet Christian Straff seine Hemmungen und besucht Jutta. Sie kommt aus dem Bad, trägt einen bunten Frottiermantel. Ihre langen, gelösten Haare fallen auf die Schultern. Die Schwester wirkt so frisch und appetitlich, daß Christian sein Herz in den Schläfen spürt. Sie kommt auf ihn zu. Ihr Gesicht schimmert im Schein einer flackrigen Kerze.
»Ich bin's«, sagt der Funkoffizier albern.
Sie lächelt. »Ich hab' auf dich gewartet.«
»Wieso denn Kerzenlicht?«
»Die Birne muß durchgebrannt sein«, entgegnet Jutta, schüttelt ihre Haare, stellt sich auf die Zehen, küßt ihn im Vorbeigehen, setzt sich auf ihr Bett, schaltet den Lautsprecher ein. Eine melancholische Melodie flutet leise wie eine Versuchung in das Schiffsappartement.
»Ich besorge dir eine andere Glühlampe«, sagte Straff hölzern.
»Bleib hier«, antwortet sie. »Wir haben doch Licht genug … und das ist doch viel … gemütlicher, oder?«
»Ja, gemütlicher«, wiederholt er und hat ein Gefühl, als ob sich eine Schnur um seine Kehle zieht.
»Wo sind wir?« fragte Jutta.
»Über die Hälfte … in elf Stunden sind wir da … Es ist Nacht, und wenn wir nicht auf eine Treibmine laufen, dann …«
»Sind Treibminen gefährlich?«
»Nicht besonders.« Christian Straff lacht. »In jedem Fall hätten wir noch Zeit, in ein Rettungsboot zu kommen.«
»Ich finde es hier allerdings schöner«, entgegnete das junge Mädchen. »Wo fahren wir eigentlich hin?«
»Nach Neustadt«, antwortet Straff.
Es ist, als ob er dem Wort nachhorchen würde. Neustadt – Marion -Jürgen – scheint er zu hören …
Kapitän
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