Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
mindeste zustößt …«, die Schadenfreude dehnt Melbers Worte, »werden die neun anderen Meldung erstatten … Hast du das kapiert?«
»Wa-was?« lallt der Hauptscharführer. Seine Augen werden klein. Es macht seinen Kopf noch mehr zum Vogelkopf. Er steht gebeugt da wie die Wracks, die vom Bock geschnallt werden. »Bist du … blau?«
»Ich nicht«, entgegnet Melber. »Duzen Sie mich nicht! … Sie …«
Ganz plötzlich wird der korrumpierte SS-Mann nüchtern, sieht sich sichernd nach der Seite um. »Ihr wollt mich also erpressen?«
»Ja.«
»Und das ist der Dank?«
»Für was?« fragt Melber.
»Was soll ich tun?« fragt Dreiling sachlich.
»Für ein dummes, beschissenes Totenkopfschwein begreifst du rasch«, versetzt Melber unsachlich. Er kann in dieser Minute nicht unterdrücken, was sich bei ihm in fast zwölf Jahren angestaut hat.
Dreiling zündet sich eine Zigarette an. Der Vogelkopf schwankt wie eine Vogelscheuche. Seine Hand zittert, und während sich durch den Rauchschleier Melbers Gesicht verzerrt, bereut der SS-Hauptscharführer heiß, diesen Häftling nicht ermordet zu haben.
Zu spät …
Dreiling ahnt seit Wochen, daß die ›Zuwendungen‹ aus den Liebesgaben eine Falle waren. Aber er ist, so meint er wenigstens, ein Mensch, und so konnte er nicht nein sagen …
Melber ist jetzt konzentriert, ruhig, fast freundlich. Er schildert den Befehl Krappmanns an Fährbach, die acht Quarantänehäftlinge zu töten, und die Weigerung des früheren Kaleus.
»Dieser Fährbach«, flucht Dreiling, »das ist vielleicht ein Idiot! So ein Blödmann! … So ein beschissener Marine-Pinkel … Und deswegen die ganze Aufregung?«
»Genau«, erwidert Melber, »du hast eine knappe Stunde Zeit, Dreiling … Bring die Sache in Ordnung, oder …«
»Aber wie soll denn ich?« erwidert der korrupte Hauptscharführer, fast lamentierend.
»Deine Sache.« Der heimliche Lagerleiter sieht auf seine Uhr, das Abzeichen des Vorzugshäftlings. »Du hast nicht lange Zeit zum Überlegen«, sagt er und entfernt sich unauffällig.
17 Uhr 03.
Noch 57 Minuten …
Zehn Minuten davor ist Georg Fährbach wie tot. Er kann nicht nach vorne, er kann nicht nach hinten. Der Mensch, der ihm am nächsten steht, Marion, seine Frau, hat sein Bewußtsein erschlagen, und trotzdem lebt zwischen den Trümmern noch Hoffnung.
Heiße, sinnlose, durchblutete Hoffnung …
Er steht vor seinem Schrank und ordnet ihn überflüssig. Als ob es darauf noch ankäme. Er hört einen Mann kommen und erkennt ihn nicht.
Es ist Melber.
Georg Fährbach erwartet Vorwürfe und duckt sich. Wenigstens wird mir die Auseinandersetzung zwei Minuten von der Schlußqual abziehen, denkt er verschwommen.
»Es ist sinnlos …«, wehrt sich Fährbach.
»Lassen wir das«, erwidert der heimliche Lagerführer. »Die Sache kommt in Ordnung.«
»In Ordnung?« fragt der Häftling Nummer 8.773 benommen. »Was heißt das? … Wie? … Oder? …«
»Ich hab' jetzt keine Zeit … Verstehst du etwas von der Handelsmarine?«
»Natürlich«, antwortet Fährbach mechanisch, »ich war doch jahrelang … Wie kann man das in Ordnung bringen? Was habt ihr vor …?«
»Schon mal was von der ›Cap Arcona‹ gehört?«
»Wie?«
»›Cap Arcona‹?« fragt Häftling Melber mit Nachdruck.
»Aber ja … Das ist das Flaggschiff meiner … meiner eigenen Linie …« Auf einmal ist Fährbach abgelenkt. »Aber wie kommst du …«
»Beim Kommandanten aufgeschnappt«, versetzt Melber.
»Und?« fragt Fährbach.
»Halt die Klappe«, sagt Melber. »Sag keinem etwas … auch nicht den Leuten vom Komitee … Ich will keine vorzeitige Panik.«
»Ja, aber …«
»Ich brauche dich jetzt nötiger als je«, sagt der illegale Lagerleiter und sieht in die Ferne. Auf seinem Gesicht fehlt jede Regung, als er hart und halblaut hinzusetzt: »Wir Häftlinge sollen auf dieses verdammte Schiff evakuiert und beim Herannahen der Engländer versenkt werden.«
Als Georg Fährbach langsam, in Raten, die neue Ungeheuerlichkeit begreift, ist es 17 Uhr 58, zwei Minuten vor seiner Hinrichtung.
Er kann nicht sehen, wie gespannt sein Kamerad Melber ist, der schon an der neuen Situation arbeitet, bevor er noch weiß, ob und wie SS-Hauptscharführer Dreiling unter seinem Druck den Häftling Fährbach rettet …
Wieder rasselt die riesige Ankerkette der ›Cap Arcona‹, wieder vibriert der graue Koloß im Takt seiner Turbinen. Wieder legen Schlepper an, die das frühere Luxusschiff zu
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