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Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Titel: Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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in den Entschluß hinein – und sein Arm hängt doch schlaff nach unten. Niemals könnte Fährbach die Nadel führen. Niemals könnte er einen Wehrlosen töten, auch wenn es jeder andere nach ihm täte. Es ist zwecklos, sich das vorzunehmen …
    Verzeih mir, Marion, denkt er, ich kann nicht anders. Auch du brächtest es nicht fertig. Alles würde ich für dich tun, für dich und Jürgen, nur das nicht. Das nicht. Das bringt kein Mensch fertig, und das schafft nicht einmal ein Unmensch so leicht …
    Hundert Anzeichen sprechen dafür, daß der Tag, auf den der ehemalige Marineoffizier Georg Fährbach so sehnsüchtig wartete, herannaht. Der Häftling steht inmitten vielfacher Unruhe und spürt sie nicht, weil er selbst zu aufgewühlt ist. Und seine Augen, seine blicklosen Pupillen erkennen nicht, daß der fahrbare Galgen abmontiert, in die Tischlereibaracke geschafft wurde, um befehlsgemäß zersägt und verbrannt zu werden. Die Skandinavier werden aussortiert. Man munkelt von Entlassung in die Heimat. Unter dem Kommando des SS-Unterscharführers Heinrichs geht ein Häftlingstransport Richtung Lübeck ab; er rollt in die Freiheit oder in den Tod. Wer wüßte es schon, und für viele ist es ohnedies das Gleiche …
    Fährbach bemerkt auch nicht den Schwarm reizloser, staksiger Mädchen, SS-Maiden genannt, die aus den Personalbögen der politischen Häftlinge die Lagerstrafen ausradieren sollen. Der Kommandant arbeitete mit Mord, sein Schreiber mit Tinte, auch so nützt es nichts …
    Nach den Menschen wandern nun die Akten in das Krematorium, in dem neben Schriftstücken die Knochen der gestern Getöteten gewendet werden, zwecks beschleunigter Verbrennung.
    Die Maßnahme X, die Sprengung des Lagers, rückt heran. Preisfrage des tausendfachen Lebens: Was ist schneller, der Massenmord an den Häftlingen oder die von Westen herankommenden Alliierten? Oder die aus dem Osten vorstoßenden Russen?
    Die Angst macht Fieber. Das Fieber erfaßt Tausende, und nur ein paar Männer der heimlichen Lagerleitung müssen von ihm ausgenommen bleiben, müssen abwarten, Kopf und Nerven zügeln, um im rechten Moment den Aufstand zu steuern, keine Minute zu früh und keine Sekunde zu spät.
    Einen Aufstand, dessen Stoßtrupp der Häftling Nummer 8.773 führen soll, Kapitänleutnant Georg Fährbach, dessen Leben an einem seidenen Faden hängt …
    Sowie der heimliche Lagerleiter Melber mit seiner Erregung fertig wurde, kam die Achtung für seinen Kameraden Fährbach wieder. Er kann nichts dafür, sagt sich der harte Kommunist, ihm fehlen eben elfeinhalb Jahre KZ-Erfahrung, die ich auf dem Buckel habe; ein Dutzend Jahre KZ töten Stolz, Würde und Gefühl, machen aus dem Menschen notfalls einen Roboter …
    »Es gibt nur eine Möglichkeit«, sagt Melber zu den anderen Häftlingen des Komitees. Sein Unterkiefer schnappte nach vorne. Die ihn kennen, wissen, daß sein Entschluß feststeht und daß es um Kopf und Kragen geht, was zu riskieren der heimliche Lagerleiter seinen Kameraden streng verboten hat.
    Melber ist untersetzt, kräftig. Seine robuste Gesundheit und seinen beweglichen Verstand konnte die Haft nicht brechen. Er braucht beides heute, denn er sagt sich als Entschuldigung, daß er alles für den Häftling Nummer 8.773 tut, weil er ihn für den Stoßtrupp braucht. Der frühere Lagerist wagt sich nicht einzugestehen, wieviel Sympathie er für den früheren Offizier hat. Sie kann, sie muß für Melber tödlich sein.
    Der Mann, den Melber sucht, hat zu einem lächerlich hageren Gestell einen lächerlich kleinen Kopf. Einen Vogelkopf. Es ist der Hauptscharführer Dreiling, in dessen glanzlosen, gelben Pupillen rote Fäden schwimmen. Er ist betrunken. Seit Wochen. Nicht nur er. Fast alle Bewacher. Die Angst treibt sie zum Schnaps. So nehmen sie den Leichentrunk auf ihren Führer vorweg.
    »Komm!« fährt ihn Melber an.
    »Sind Sie verrückt?« brüllt der Totenkopf-Mann. »Mann, ich mach 'ne Fliege aus Ihnen! Stehen Sie still! Liegen Sie flach!«
    »Aus«, versetzt Melber halblaut. Seine Stimme zischt: »Schluß jetzt, du Drecksau!«
    »Sind Sie wahnsinnig?« Dreiling mustert den Häftling wie ein Gespenst. Er ist so überrascht, daß er nicht zuschlägt, sondern zuhört.
    »Zehn Mann im Lager wissen, wie viele englische Zigaretten du geraucht und wieviel Schweizer Schokolade du aus den schwedischen Care-Paketen gefressen hast … Sie wissen auch, wann und wie du dafür Post aus dem Lager geschmuggelt hast … Wenn mir das

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