Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Stammpersonal der Quarantänebaracke, den dienstlichen Befehl, zu verschwinden.
»So«, sagt er zu dem Grünen, »wieviel sind nebenan?«
»Acht.«
»Prima«, erwidert Dreiling, »schick sie herein … einzeln.«
Der erste ist Kaulbach, der Bibelforscher. Als er die gleißnerische Freundlichkeit des SS-Hauptscharführers sieht, weiß er, daß er nur mehr ein paar Sekunden Zeit zum Leben hat. Fast demütig zieht er den gestreiften Kittel aus, macht den Arm frei. Sein Gesicht erhellt ein stilles, fast dankbares Lächeln.
Der Kapo bindet den Oberarm ab.
»Weißt du, mein Sohn«, wendet sich Dreiling gönnerhaft an Kaulbach, »wir haben dir doch diese Bazillen eingespritzt. Und jetzt wird das Lager verlegt, und nun kriegst du das Gegengift, damit du nicht die anderen ansteckst …«
Das Lächeln blendet langsam aus dem Gesicht Kaulbachs, als der Vogelkopf mit der Spritze kommt, falsch lächelt. Kaulbach, der ergebene, kleine, tapfere Mann, sieht noch, daß in der Spritze keine Flüssigkeit ist, weiß, was kommen wird, schließt die Augen, und während man ihm den Tod in die Ader spritzt, lehnt er sich zurück, wird sein schmales, ärmliches Gesicht steif, endgültig, und behält doch noch einen Ausdruck, der sagen will: Es ist vollbracht …
»Schaff den Kerl 'raus!« fährt der Hauptscharführer den Kapo an.
Der Grüne nimmt den Sterbenden wie einen Sack; zu faul, ihn über die Schulter zu werfen, schleppt er ihn unter den Armen in den Nebenraum.
»Schick mir den nächsten herein!«
Der Mann ist nicht so ergeben wie Kaulbach. Als er sieht, was mit ihm geschehen soll, schreit er. Und als ihm der Kapo die behaarte Hand auf den Mund legt, schnappen seine Kiefer zu. Aber Sekunden später ist auch er tot …
»Der Nächste!«
Minuten später liegen acht Tote im Nebenraum.
Befehl ausgeführt, denkt Dreiling sarkastisch, wenn auch nicht von Fährbach. Aber was macht das aus, hin ist hin, und hier gibt es nur einen Zeugen, einen einzigen. Und was man mit Häftlingszeugen macht, das hat der Hauptscharführer im KZ von der Pike auf gelernt.
»So«, sagt er, »du oller Zuhälter … Nun bist du dran, tut mir leid, aber …«
Im ersten Moment begreift der grüne Kapo nicht. »Ich bin doch gar nicht mit Typhus …«, sagt er hastig.
»Mach keine Faxen!« erwidert Dreiling. »Du hast Augen und Ohren … und wer hört und sieht, der quasselt noch …«
Der Grüne rührt sich noch immer nicht. Die eine Hälfte seines Gesichts ist zu einem grausamen Lächeln verzerrt. Ein Scherz, denkt er, er will mir nur Angst machen, kennen wir doch, bin doch schon fünf Jahre hier …
»Wird's bald?« ruft der Hauptscharführer jetzt, ernstlich böse über so viel Verständnislosigkeit.
Endlich begreift der Kapo, schüttelt die Lähmung ab, rennt auf die Türe zu, reißt sie auf, hastet los, springt in langen Sätzen um sein Leben – und macht genau das, was der Vogelkopf wollte.
Hauptscharführer Dreiling reißt die Pistole aus der Tasche.
15 Meter Entfernung.
Wenn Dreiling in seinem Leben je etwas gelernt hat, dann schießen. Da trifft er noch im Schlaf, noch im Suff.
Er hat den Grünen im Visier und knallt ihn von hinten ab wie ein Kaninchen. Kaninchen ist Quatsch, denkt er, dabei schießt man mit Schrot, und nicht mit 'ner ordentlichen Kugel …
Der Kapo überschlägt sich.
Sein Tod sieht aus wie ein verpfuschter Hochsprung …
Die ›Cap Arcona‹ hat die Neustädter Bucht erreicht. Die Feuer werden wegen Mangel an Brennstoff bereits gelöscht, noch während der Anker sich in den Grund bohrt. Kapitän Bertram macht sich bereit, Verwundete an Bord zu nehmen.
Nichts geschieht.
Die Marine hat, so scheint es, die ›Cap Arcona‹ vergessen. Auch am zweiten Tag rührt sich noch nichts.
Christian Straff schüttelt eine düstere Vorahnung ab. Aber er merkt, daß es anderen genauso geht. Etwas Unheimliches ist los, zieht sich um das Schiff herum zusammen wie ein Gewitter.
Schließlich wendet sich der Kommandant aus eigener Initiative an die Lazarette von Neustadt und Umgebung und erklärt sich bereit, Verwundete an Bord zu nehmen. Keine Antwort. Entweder haben die Leute noch genug Platz oder andere Befehle.
Die Sonne zieht den Nebel nach oben.
Der Vorfrühling macht Ufer, Häuser und Wälder plastisch. Ein idyllisches Bild, aber was für ein Ziel für ›Liberators‹ oder ›Lancasters‹, die Tag und Nacht in riesigen, glitzernden Schwärmen über Deutschland erscheinen. ›Lightnings‹ überfliegen das
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