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Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Titel: Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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Sein Körper war geschwächt, aber sein Kopf intakt, und während die meisten stumpfsinnig dahinvegetierten, schmiedeten er und Melber im zweiten Waggon des langen Zuges schon wieder Pläne.
    Der heimliche Lagerleiter hatte, um eine neuerliche Panik niederzuhalten, das Zweckgerücht verbreiten lassen, daß die Lagerinsassen auf Schiffe der Handelsmarine verladen und nach Schweden in das neutrale Ausland gebracht würden, weil Himmler im letzten Moment mit einer humanen Geste seinen verwirkten Kopf aus der Schlinge ziehen wolle. Da der Mensch leicht glaubt, was er gerne glaubt, dämmerten die meisten Zebrasklaven ganz zufrieden der Katastrophe entgegen. Zwar verdursteten sie im Dutzend, aber wenigstens konnten sie nicht geschlagen werden, solange die Waggons geschlossen waren.
    Auf dem Rangierbahnhof von Lübeck hielt der Zug. Hauptscharführer Dreiling ließ brüllend die Türen öffnen. Seine Augen waren stumpf wie Wetzsteine. Er fuchtelte mit einer Peitsche herum, aber er zitterte, als Melber an ihn herantrat und ihm zuzischte: »Lass uns Wasser holen, oder du …«
    Der Totenkopfmann ging weiter, den Kopf schräg zwischen die Schultern gezogen, in einer Geste, als ob er mit allem nichts zu tun hätte. Er raunte einem Posten etwas zu. Auf einmal wurden auch die anderen Türen geöffnet, und überall durften zwei Leute an den Brunnen Wasser tanken.
    Der Häftling Melber verstand auch hier, Ordnung zu wahren und die Gier einzudämmen.
    Auf dem Nebengeleis stand ein Transport englischer Kriegsgefangener, lauter Offiziere, von alten Landwehrsoldaten nur flüchtig bewacht. Sie durften im offenen Waggon fahren und auf den Bahnsteigen promenieren.
    »Wer spricht hier Englisch?« fragte Melber hastig.
    »Ich«, antwortete Fährbach.
    »Los!« raunte ihm der Kommunist zu. »Geh zu den Tommies rüber … Sag ihnen, daß wir auf die ›Cap Arcona‹ verladen werden sollen … Sie sollen ihren Landsleuten Beine machen, damit sie uns hier …«
    Der Häftling Nummer 8.773 verstand sofort. Er trat an den Brunnen heran, als ob er Wasser holen wollte. Ein hagerer Colonel merkte gleich, daß ihm dieser Häftling etwas sagen wollte. Georg sprach zuerst so hastig, daß ihn der Offizier nicht begriff. Er wiederholte es vorsichtig, aber er wußte nicht, ob der Colonel ihn verstanden hatte, denn plötzlich stand SS-Hauptsturmführer Krappmann auf dem Bahnsteig und trieb die Häftlinge mit Fußtritten in die Waggons zurück.
    »Ihr seid wohl wahnsinnig!« brüllte er. Dann ging er auf die Bewacher los: »Wer hat das erlaubt?« fragt er Hauptscharführer Dreiling.
    Dieser stand stramm.
    »Ach nee«, sagte Krappmann, »du hast wohl mit diesen Schweinen 'ne gemeinsame Leiche im Keller?« Der Zorn nahm ihm die Luft. Er fluchte stoßweise. »Herhören!« rief er. »Wer hier noch einmal die Häftlinge begünstigt, den leg' ich höchstpersönlich um! Wenn ihr schlapp macht, dann …« An seinen Schläfen traten die Adern wie Schnüre hervor.
    »Ohne Wasser wäre es zu einem Aufruhr gekommen«, sagte Dreiling kleinlaut.
    »Wasser?« versetzte der Lagerhaftführer. »Die fahren in den Himmel … Da gibt's Manna … Habt ihr schon mal gehört, daß die da oben Wasser saufen?«
    Er lachte. Seine Männer lachten beflissen mit. Seit der Hauptsturmführer wußte, daß es ihm unweigerlich an den Kragen ging, war er ungenießbar. Er flüchtete in die Härte, wenigstens, wenn er betrunken war.
    Es war kaum einer unter den Totenkopfleuten, die den Strick nicht verdient hätten, aber Krappmann hatte mit Abstand das größte Schuldkonto.
    Endlich lief der Transport in Lübeck ein. Um zehn Uhr vormittags. Die Häftlinge mußten noch bis zum Abend in den Waggons bleiben, weil die Zivilbevölkerung nichts von ihnen sehen sollte. Dann wurden sie in Dreierreihen aufgestellt und mit Kolbenstößen zum Hafen getrieben. Hinter der Kolonne marschierte ein Rollkommando der Totenkopfleute. Wer nicht mehr mitkam, wurde erschossen, Durst, Seuche und Genickschuß arbeiteten Hand in Hand mit einer Verlustquote von fast 50 Prozent.
    Trotzdem kamen noch viel zu viele Häftlinge am Kai an. Das 8.000 Tonnen große Frachtschiff ›Athen‹ wurde mit verdreckten und zerlumpten Wracks gefüllt. Am Fallreep stand der Lagerhaftführer und trieb sie mit Stiefeln und Peitsche an. Dreiling war daneben und zählte. Keiner durfte an Oberdeck bleiben.
    Über eine steile Eisenleiter mußten die elenden Passagiere in den Schiffsrumpf klettern. Der Mann vor Fährbach, ein Tscheche,

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