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Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Titel: Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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vertrete mir die Beine im Wäldchen ein wenig.«
    Christian Straff geht mit beschwingten Schritten auf das Gebäude zu. Er hört das Greinen Jürgens und denkt sich noch nichts. Erst als er feststellt, daß der Junge eingesperrt ist, wird er unruhig. Auch seine Bekannten, die für Marion hier Platz machten, sind nicht da.
    Langsam dreht Straff den Schlüssel um.
    Jürgen erkennt ihn und lächelt unter Tränen.
    »Und wo ist Mutti?« fragt der Seeoffizier und spürt einen Kloß im Hals.
    »Weg«, antwortet der Junge.
    »Wohin?«
    »Mit dem Fahrrad«, entgegnet Jürgen. »Läßt du mich heraus und mit den anderen Kindern spielen, Onkel Christian?«
    »Ja, gleich«, versetzt er zerstreut. »Ist die Mutter schon lange weg?«
    Der Junge nickt. Einen Moment zucken seine Mundecken wieder. Dann wird das Kind trotzig, weil es von Marion so lange allein gelassen wurde.
    Weg mit dem Fahrrad? überlegt Christian Straff. Während pausenloser Fliegerangriffe? Da stimmt doch etwas nicht.
    Er führt den Jungen auf den Hof, weiß, daß die Frist bemessen ist, und denkt verbittert, daß er Jürgen ins Freie führt wie einen Hund an die Luft.
    Der Seeoffizier schreibt eine Mitteilung für Marion, daß er mit der ›Cap Arcona‹ wieder in der Bucht von Neustadt sei und daß er versuche, so bald wie möglich wiederzukommen.
    Dann sucht er eine Frau, die sich des Jungen annimmt, und findet endlich eine alte Bäuerin, die ihm Jürgen wortlos und mürrisch abnimmt.
    Je näher Christian Straff seinem Schiff kommt, desto panischer wird seine Sorge um Marion Fährbach …
    KZ Neuengamme. Torschluß. Die letzten 400 Häftlinge des Stammpersonals wurden in Güterwagen verladen. Sie standen 24 Stunden am Appellplatz. So lange hing ihr Schicksal in der Schwebe. Es waren fast ausschließlich politische Häftlinge, unter ihnen die Nummer 8.773, früher Kapitänleutnant Georg Fährbach, und keiner von ihnen sollte auf Weisung Himmlers von den Engländern lebend befreit werden.
    Einen Tag lang zögerte der Lagerhaftführer, nicht aus Gründen des Gewissens, sondern aus Mangel an Mitteln. Die bewährten Mordeinrichtungen des Lagers waren abgebaut worden, die Kriegslage wurde immer eindeutiger, die Tommies kamen stündlich näher, und Himmlers Fernschreiben jagten sich mit den Befehlen, daß die Spuren der KZs, vor allem der Hinrichtungen, unter keinen Umständen den Alliierten bekannt werden dürften.
    So wurde das Geschick der letzten 400, darunter fast geschlossen der illegalen Lagerleitung, vertagt, während die Lethargie allmählich die Spannung aushöhlte. Der letzte Transport sollte nach Kaltenkirchen, in ein Außenlager Neuengammes, rollen.
    Aber die englischen Panzer waren schneller. Der Elendszug wurde in Hamburg-Eidelstedt angehalten. Andere Häftlinge, Gefangene mit grünen und schwarzen Winkeln, kamen dazu.
    Häftling Melber, der heimliche Lagerleiter, hatte Vorräte aus schwedischen Care-Paketen gehortet. Bei der Auskehr des Lagers war der Notvorrat vom Lagerhaftführer gefunden worden.
    Er war berühmt für seine tödliche Ordnung: Ein Menschenleben zählte nicht, aber kein Paket durfte verschwinden. Da kannte Hauptsturmführer Krappmann nichts. So sahen seine Schergen mit gierigen Augen zu, wie die wertvollen Bestände einfach auf die Waggons verteilt wurden, bevor der Zug losratterte.
    Die hochwertigen Nahrungsmittel lösten die Disziplin der Häftlinge auf. Trotz der Warnung Besonnener und trotz der ausdrücklichen Befehle der heimlichen Lagerleitung stürzten sich die ausgemergelten Wracks auf die Kalorien und schlangen wahllos hinunter, was sie errafften. Die Verdauung mußte versagen. In den abgesperrten Waggons, die tagelang hin und her rangiert wurden, über Stellenweichen, die keiner kannte, vom Durcheinander des Untergangs bewegt, brach die Ruhr aus. Kein Körper konnte die gierig verschlungene Mahlzeit behalten.
    Die Zustände wurden unerträglich. Es gab kein Wasser, keine Luft, keine Besen, keine Hilfe. Mitunter wurden die Türen aufgerissen und die Toten wie Sandsäcke auf einen Karren geworfen. Zehn bis vierzehn aus jedem Waggon.
    Jetzt, als das Ende der einen den anderen Platz geschaffen hatte, wurden Melber und seine Leute, viel zu spät, mit dem massierten Wahnsinn endlich fertig. Die restlichen Lebensmittel wurden unter die Häftlinge verteilt; jeder hatte über den anderen zu wachen, daß die eiserne Reserve künftig nicht angegriffen wurde.
    Häftling Nummer 8.773 überstand die Todesfahrt ohne Typhus und ohne Ruhr.

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