Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Bertram zögernd, als suchte er immer noch einen Ausweg.
»Mit Vergnügen.«
»Ich weiche nur der Gewalt …«, versetzt Bertram. Er spricht langsam, schleppend, betont. Man merkt, wie schwer ihm die Worte fallen: »Guten Tag.«
»Nicht so hurtig!« ruft Langenfritz. »Es ist noch einiges zu regeln.«
»Bitte«, sagt der Kapitän steif.
»Zunächst einmal übernehme ich das Kommando an Bord … Ist das klar?«
Bertram zuckt die Achseln.
»In einer Stunde beginnen wir mit der Verladung der Häftlinge«, fährt der SD-Mann fort. »Kein Mann der Besatzung hat ohne ausdrücklichen Befehl oder Erlaubnis von mir mit diesen Scheißkerlen zu sprechen!«
Der Kapitän nickt.
»Außerdem ersuche ich Sie, mir und meinem Gefolge mindestens fünf Erster-Klasse-Kabinen freizumachen … Wie steht es mit Proviant?«
»Acht Tage Notverpflegung für das Stammpersonal«, entgegnet Bertram.
»Beschlagnahmt!« verfügt der Sturmbannführer. Dann wendet er sich an Christian Straff: »Das war doch mal ein Luxusschiff …? Los, Mann, zeigen Sie mir den Komfort!«
Der Funkoffizier betrachtet seinen Kapitän, der ihm müde zunickt.
Sie gehen zu den Kabinen, die einmal von Bankiers, Bischöfen und Boxern, von Managern, Millionären und Mätressen, von Finanziers, Filous und Flitterwöchnern eingenommen worden waren.
Der SD-Mann bleibt stehen. »Na«, sagt er, »nicht mehr viel da von der alten Pracht …«
Kaleu Straff sieht durch ihn hindurch.
»Funktioniert das Bad?«
»Vielleicht.«
»Ist das die größte Kabine?«
»Ja.«
»Die nehme ich für mich … Die hier nebenan für meine Sekretärin …« Er geht weiter, besichtigt die dritte Kabine.
In diesem Moment kommt Jutta, die Rot-Kreuz-Schwester, sieht Langenfritz und Straff, bleibt betroffen, wie angeklebt stehen, rennt, noch bevor der SS-Mensch sie bemerkt, gehetzt in ihre Kabine zurück und verriegelt sie von innen.
Langenfritz geht weiter, läßt sich die Kabinen zeigen, requiriert die ganze Reihe für sich und seine Leute, für den Untergang erster Klasse …
»Ich hätte nicht gedacht, daß diese Scheißdinger so klein sind … Muß sie leider alle nehmen …«, stellt er fest und bleibt vor der letzten Kabine stehen.
Sie ist verschlossen.
»Bedauere«, sagt Christian Straff. »Ich habe keinen Schlüssel«, erklärt er und hofft inständig, daß sich Jutta drinnen nicht rührt.
»Ist sie bewohnt?« fragt der SD-Mann.
»Privat«, antwortet Christian Straff.
»Gibt es nicht mehr!« versetzt Sturmbannführer Langenfritz. »Werfen Sie alle heraus, die hier nichts zu suchen haben … Ich erwarte Vollzugsmeldung … Kapiert?«
»Jawohl«, sagt der Funkoffizier mit gleichmütiger Stimme. Er steht lässig im Halbdunkel. Seine Augen glänzen, denn sie haben Hände, die sich in diesem Moment auf Vorschuß und inbrünstig um die Kehle dieses Widerlings schließen … und Gnade ihm Gott, wenn seine leiblichen jemals dazu kommen werden!
Sternförmig, von allen Seiten, werden endlose Kolonnen verhungernder, verdurstender, kranker, geschlagener KZ-Häftlinge in die Neustädter Bucht getrieben, als wollte hier das untergehende System zuletzt noch einen Massenfriedhof seiner Zebrasklaven errichten. So wird das Leid in der Umgebung von Lübeck zwischen Ost und West gestaut, in einer Zwickmühle zwischen Todesangst und Lebenshoffnung …
Der 8.000 Tonnen große Frachtdampfer ›Athen‹ liegt am Kai. Auf der Pier gehen schwerbewaffnete SS-Posten auf und ab. Der Rumpf des Schiffes ist bis zum Bersten mit Häftlingen gefüllt. Sie liegen aufeinander, nebeneinander, durcheinander. Ohne Wasser, ohne Essen, für ihre Notdurft ausgerüstet mit zwei Kübeln – und trotzdem krepieren sie dem Hauptsturmführer Krappmann, Lagerhaftführer des KZs Neuengamme, viel zu langsam.
Wenn sich die Engländer noch eine Woche Zeit lassen, so erläutert er den Totenkopfleuten vom Stammpersonal, »dann können sie statt befreien beerdigen … und Tote reden nicht.«
Er hat seine Rechnung ohne Ruhr und Typhus gemacht, und die Seuchen, die plötzlich ausbrechen und eine Verbesserung der Lebensverhältnisse erzwingen, fürchten sich weder vor seinen Pistolen noch vor seinen Henkern … Die Bakterien steigen von unten über die lange Eisenleiter, über die man die Häftlinge mit Kolbenstößen und Peitschenschlägen hinabgeworfen hat, mühelos nach oben, um auch nach dem Stammpersonal zu greifen.
»Am liebsten würde ich hinausfahren und den Kahn anzünden«, tobt Krappmann,
Weitere Kostenlose Bücher