Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
antwortet er gedehnt.
Nach vorsichtigem Klopfen betritt Funkmaat Möhrenkopf die frühere Erste-Klasse-Kabine.
»Gibt es etwas?« fragt Christian Straff.
»Und ob«, versetzt Möhrenkopf. »Kriegen Besuch.«
»Wen?« fragt der Funkoffizier mechanisch und reißt ihm den Funkspruch aus der Hand, in dem die SD-Leitstelle Lübeck den SS-Sturmbannführer Langenfritz als Besucher auf der ›Cap Arcona‹ avisiert.
»Schöne Bescherung«, sagt Christian Straff. »Was will denn der?«
»Viel Vergnügen, Kaleu«, ruft Möhrenkopf seinem Chef nach, der sich auf die Kommandobrücke begibt …
Kapitän Bertram ist ruhig und abweisend, und er kommt dem aus der Schaluppe an Bord steigenden SS-Offizier auch nicht einen Schritt entgegen, als wollte er ihm von vornherein klarmachen, wie wenig der SD-Mann an Bord zu bestellen hat.
»Heil Hitler!« ruft der SS-Major mit schnarrender Stimme. Sein Gesicht ist blass, seine Haare wirken farblos und seine Pupillen sind verwaschen, wie zerlaufene Wasserfarbe. Es sieht aus, als ob Langenfritz lächeln würde, aber es ist eine Drohung. Der neben seinem Kapitän stehende Christian Straff kennt es nur zu gut.
»Machen wir es kurz«, sagt der Sturmbannführer, »Sie haben sich geweigert, KZ-Häftlinge an Bord zu nehmen.«
»Ja …«
Langenfritz zieht die Oberlippe hoch, als ob er eine Waffe spannte. »Wie kommen Sie dazu?« fragt er scharf.
»Ich unterstehe meiner Reederei und dem Reichskommissar für Seeschiffahrt … Befehle von ihnen führe ich aus.« Der Kommandant poliert die Worte auf Hochglanz: »Und sonst hat mir niemand Weisung zu geben.«
»Meinen Sie?« fragt Langenfritz.
»Die ›Cap Arcona‹ ist zum Lazarettschiff bestimmt«, fährt Bertram in ruhigem Ton fort, »das erfordert Vorbereitungen … Sie werden verstehen, daß meine Zeit bemessen ist.«
»Führen Sie meinen Befehl aus?« fragt der SD-Mann. »Ja oder nein?«
»Ich denke nicht daran!« versetzt Bertram kalt.
Es sieht aus wie ein Theatertrick, aber es ist Ernst, tödlicher Ernst: Mit einem Griff hat der SS-Sturmbannführer die Pistole aus der Tasche gerissen, entsichert sie und sagt: »Also, zum letztenmal: Ja oder nein?«
Die Augen des SD-Mannes haben den Kapitän bereits im Visier. Christian Straff bemerkt entsetzt, daß dieser gelernte Mörder keine Sekunde zögern wird, Kapitän Bertram niederzuschießen. Er sieht, daß Bertram die Gefahr nicht kennt, in der er steht, und er überlegt in diesen gefährlichen Sekunden, ob er dem Sturmbannführer an die Kehle fahren, ob er ihn niederschlagen, ob er ihn überwältigen soll …
Aber draußen in der Schaluppe sind seine Begleiter; irgendwo an Oberdeck steht sein Adjutant. In der Bucht selbst bewachen SS-Einheiten Tausende von KZ-Häftlingen. Und diese Totenkopf-Leute sind in diesen letzten Tagen wütend und unberechenbar wie verwundete Bullen, die sich im Schlachthof noch einmal vom Strick losreißen.
»Herr Kapitän …«, wendet sich der Funkoffizier an Bertram und stellt sich halb vor ihn, als könnte er ihn so schützen, »bitte, bedenken Sie …«
Bertram sieht ihn voll an. Seine feste, abweisende Miene taut auf. Er ist erstaunt, verwundert ob der Intervention, er versteht Straff in diesem Moment nicht, begreift auch nicht, daß ihm sein Funkoffizier das Leben rettet, versteht überhaupt nichts: er ist ein alter Schipper der christlichen Handelsschiffahrt und als Kapitän die oberste Instanz an Bord, Polizeichef und Bürgermeister zugleich, berechtigt, Tote beerdigen, Kinder taufen und Verbrecher in Eisen legen zu lassen, und jede Auflehnung dagegen ist nach dem uralten Kodex der Männer in der blauen Kluft Meuterei …
»Ich glaube … die Herren begreifen allmählich«, sagt Langenfritz. Noch immer hält er die Pistole in der Hand, betrachtet sie wie bedauernd, lächelt fahl.
»Bitte«, drängt Christian Straff zum zweitenmal.
Bertram sieht ihn groß an, versteht seinen Funkoffizier auf einmal, liest die überdeutliche Aufforderung aus seinem Gesicht: Zwei, drei Tage noch, dann ist es vorbei, dann werfen wir Kerle wie diesen über Bord, dann sind wir wieder Herr auf unserem eigenen Schiff … und jetzt sind wir zu schlau und zu gerissen, um uns von rasenden Bullen, die der Metzger gleich kassieren wird, niedertrampeln zu lassen.
»Haben Sie Vollmachten?« fragt der Kapitän.
»Natürlich«, antwortet Langenfritz mit Genuß.
»Schriftlich?«
»Sehe ich aus wie ein Bürokrat?«
»Sie übernehmen die Verantwortung«, entgegnet
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