Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
nach, vielleicht nicht … Wie kann man sich denn um so einen Kerl Gedanken machen, wenn man so jung und hübsch ist wie Sie? Gibt doch auch noch andere.« Sein Gesicht weist deutlich aus, wen er damit meint.
»Was ist aus ihm geworden?« fragt Marion zwecklos zum zweitenmal.
»Vor einer Woche war er noch ganz munter«, entgegnet Heinrichs zynisch, »seitdem bin ich selbst unterwegs.« Er sieht in die bittenden, schwimmenden Augen, spürt einen Moment etwas wie ein Gewissen, senkt den Kopf, spuckt aus und sagt brummig: »Na … vielleicht wird sich's noch geben.«
Der Zählappell ist beendet.
Mit 63 Toten ist der Transport vollzählig.
»Prima, wenn uns die Tommies die Arbeit abnehmen«, sagt der Totenkopfmann, der Heinrichs Meldung macht. »Hauptsache, es ist keiner stiften gegangen … dann haben wir noch an die 60 Verletzte«, setzt er mit fragendem Blick hinzu.
»Wie immer«, antwortet Heinrichs und gibt dem SS-Mann mit den Augen einen Wink, vor Marion nicht weiterzusprechen.
Vor acht Tagen lebte er noch, denkt die junge Frau, sonst hört und sieht sie nichts, spürt gewürgte Angst und lodernde Hoffnung, Hitze und Kälte, und übersieht das Drama, das sich in diesem Moment abspielt, begreift nicht, daß die Verwundeten nicht von Sanitätern auf einen Haufen getrieben werden, sondern von Mördern, hört nicht einmal die Feuerstöße aus den Maschinenpistolen, sieht nicht die rollenden Augen und bittenden Hände, versteht nicht die Beteuerungen Verletzter, die in Silben der Angst noch einmal geloben, marschieren zu wollen, bis sie krepieren … und begreift das Massaker erst, als sich einer der Verwundeten losreißt, mit durchbluteter Zebrakleidung loshumpelt und von einem der Bewacher lässig abgeknallt wird …
»Das dürft ihr nicht!« schreit sie den Unterscharführer an. »Das ist …« Sie bricht jäh ab. »Mein Gott!« Georg ist ihr wieder eingefallen.
Dann kommen die Tiefflieger wieder. Zum drittenmal.
Marion Fährbach, die von Heinrichs zu Boden gerissen wird, ist ihnen fast dankbar dafür …
Kapitän Bertram und Christian Straff, der Funkoffizier der ›Cap Arcona‹, sind an Land gegangen, um dem einstigen Luxusschiff die letzte Schmach zu ersparen: ein schwimmendes KZ zu werden. Sie haben sich an die Reederei gewandt.
Sie besteht aus ein paar Leuten, die von Hamburg evakuiert wurden und im Moment jedenfalls andere Sorgen haben, die sich wundern, daß es die ›Cap Arcona‹ überhaupt noch gibt, und im übrigen Kapitän Bertram an den Reichskommissar für die Seeschiffahrt verweisen.
Fortsetzung der Odyssee an Land mittels eines alten Motorrades, das Christian Straff auftrieb, mit dem er seinen Kommandanten nach Lübeck kutschiert, immer wieder in Luftangriffe geratend, an mißtrauischen Wehrmachtsstreifen und Aufhängestäben vorbei.
Notdienststelle des Reichskommissars in Lübeck. Sie warten drei Stunden im Vorzimmer. Dann werden sie vorgelassen. Der Mann, der über die Zukunft der ›Cap Arcona‹ zu bestimmen hat, hört Bertram mit steifer Miene an. Keine Regung ist in seinem Gesicht zu erkennen. »Paßt mir auch nicht«, sagt er schließlich und telefoniert mit einem Polizeigeneral herum.
Das Gespräch wird drei-, viermal unterbrochen.
Am Nachmittag wird Kapitän Bertrams Zivilcourage belohnt: Der Reichskommissar läßt ihm mitteilen, daß die in der Neustädter Bucht vor Anker liegenden Schiffe ›Cap Arcona‹ und ›Deutschland‹ als schwimmende Lazarette einem Generalarzt der Wehrmacht unterstellt werden, der bereits in Neustadt eingetroffen sein soll.
Die beiden Seeoffiziere fahren nach Neustadt zurück. Unterwegs hält Christian Straff plötzlich und bittet seinen Kommandanten um einen kleinen Umweg. Kapitän Bertram ist einverstanden, und so brausen sie mit dem Motorrad zu dem Dorf, in dem der Funkoffizier Marion, die Frau seines Freundes Georg, unterbrachte. Das Fahrzeug rattert auf das einzelne Gehöft zu, auf dessen rotem Dach sich die Sonne spiegelt, das im Hintergrund von leuchtend-grünem Wald umgeben wird und das wie eine Idylle des Friedens daliegt. Hier wenigstens sind Marion und Jürgen, der Junge, sicher. Hier kann ihnen nicht viel geschehen. Christian Straff ist stolz auf seinen Einfall, hier für sie Quartier gemacht zu haben.
Er fährt durch das Tor, stellt das Motorrad ab, lädt seinen Kapitän ein, mitzukommen.
»Nein, danke«, erwidert Bertram. »Lassen Sie sich Zeit, Straff … Wir nehmen an Bord den Verwundeten bloß Platz weg … Ich
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