Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
nicht noch deine blauen Wunder erlebst«, entgegnet Melber skeptisch, aber er spürt, wie sich die Erregung des früheren Marineoffiziers auch auf ihn überträgt.
Langsam tuckert die ›Athen‹ näher, während der Häftling Nummer 8.773 mit fiebrigen Augen verfolgt, wie das ergraute, früher so bunte Flaggschiff seiner Reederei Gestalt annimmt. Er erkennt die harmonischen Formen des Promenaden- und Bootsdecks, die senkrecht aus dem Wasser steigende Linie des mächtigen Vorderstevens, die leicht nach hinten abfallenden Masten und Schornsteine, die ausladende Kommandobrücke, die das Deck über seine ganze Breite beherrscht.
Und es ist Fährbach, als wäre er nicht mehr unter menschlichen Wracks, die nicht sterben können, sondern als kehre er in eine Welt voller Glanz zurück, voller Freude und Luxus, an der Seite Marions, die sich diese Traumreise verdient hat, irgendwohin, wo die Luft frisch ist, wo die Musik spielt, wo nur Eleganz zählt, wo der Tag lacht und die Nacht lockt und die Zärtlichkeit kein Ende nimmt …
»Komm zu dir«, stößt ihn Melber derb in die Rippen, »hör zu! Reiß dich zusammen!« Der heimliche Lagerleiter spricht schneller als sonst: »Wenn du einen von deinen früheren … Kameraden erkennst … sieh weg, geh nicht auf ihn zu, lass diese …«, Melber deutet in Richtung der Bewacher, »Dreckschweine nichts merken.«
»Ja«, sagt Georg Fährbach ohne zuzuhören. Wenn ich an Bord bin, überlegt er wieder, bin ich in Sicherheit. Da bin ich zu Hause, auf jedem Deck, hinter jedem Luk. Der Querschnitt der ›Cap Arcona‹ hing fast in jedem Büro der Reederei, und darunter stand, daß das Schiff das Blaue Band des Südatlantiks erobert habe, daß 84 Köche für das leibliche Wohl sorgten und der Zwei-Schrauben-Dampfer das erste vollelektrifizierte Turbinen-Dampf-Schiff der Welt sei …
»Verstanden?« fragt Melber zum zweitenmal.
»Ja«, erwidert der Häftling Nummer 8.773 und denkt dabei: Ob es Kapitän Gerdts noch gibt? Wer wohl von der Stammbesatzung noch da ist? Was der alte Kahn alles hinter sich haben mag?
Mit jedem Meter scheint der frühere Marineoffizier jünger zu werden, kräftiger, sicherer. Die Zebrakluft wird zur Lappalie. Seine Lungen atmen stärker durch. Sein Herz schlägt heftig, und in dem Blut, das es mächtig durch den Körper pumpt, schwimmt das Leben wieder, treibt Kraft, bläht sich Hoffnung …
Melber sieht, daß er mit Fährbachs Euphorie nicht fertig wird, und er beordert zwei Leute vom Komitee, die an der Seite Fährbachs Unüberlegtheiten verhindern sollen. Unabhängig von aller Sympathie, die sich der Kommunist ungern eingesteht, weiß er auch, daß der frühere Marineoffizier jetzt der wichtigste Mann an Bord ist und zum Schlüssel einer auf Umwegen zu erkämpfenden und teuer zu bezahlenden Freiheit werden kann …
Die junge Frau mit dem schönen, rührenden Gesicht, das von dunklen, sprechenden Augen beherrscht wurde, Marion Fährbach, hatte, eingekeilt zwischen Peinigern und Gepeinigten, auch den dritten Angriff britischer Tiefflieger überlebt.
Sie war mit den anderen benommen aufgestanden, hatte sich nach ihrem Fahrrad umgesehen und war instinktiv von dieser Kolonne der Verzweiflung weggefahren, was ihr vermutlich das Leben rettete, denn die Briten, die ihren Irrtum nicht erkannten, griffen wütend und hartnäckig den Todesmarsch immer wieder an.
Daß Georg, ihr Mann, unter diesen Menschen im gestreiften Anzug des KZs Neuengamme noch vor einer Woche war, hatte sie erfahren. Und was ihre Bewacher mit den Häftlingen zu tun pflegten, hatte sie gesehen.
Marion Fährbach, diese grazile Sopranistin, die der Krieg hinderte, den Menschen Freude zu schenken, verstand nichts von Politik. Sie hatte auch nie begriffen, warum Georg damals dem braunen Hoheitsträger in das Gesicht schlagen mußte. Sie hatte es – ohne mit ihrem Mann zu hadern – als einen bedauerlichen Affekt hingenommen.
Auf einmal verstand sie ihn, wußte, daß man nicht anders handeln konnte, wenn man ein Mensch wie Georg war.
Marion atmete heftig. Sie fuhr langsamer. Sie sah sich um. Jetzt, da der blutige Spuk vorbei war, fing sie der Alltag wieder ein, dachte sie an Jürgen, den sie zu Hause eingeschlossen hatte.
Die junge Frau geriet noch in zwei Angriffe und gelangte erst am späten Abend zu dem Bauernhof, den ihr Christian Straff, Georgs Freund, als Asyl verschafft hatte. Sie fand eine Nachricht von ihm vor, las, daß die ›Cap Arcona‹ wieder in der Bucht von Neustadt
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