Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
haben, sie können sich nicht wehren, weil sie nicht bewaffnet sind, aber das wissen die Engländer nicht, und als sie es merken, handeln sie nach dem Schema aller Soldaten in allen Armeen der Welt: Befehl ist Befehl …
Der Bomberverband dreht abwartend eine Platzrunde über dem Angriffsziel, während das Rudel der Jäger und Jabos jetzt den Erdkampf sein läßt, wie ein Mückenschwarm auseinanderflitzt und in der Kurve von den Schiffen Maß nimmt. Den vermeintlichen Truppentransporter lassen die flinken Hornissen einstweilen liegen. Sie tasten die anderen Schiffe nach Gegenwehr ab, aber die Flak schläft oder hat sich verschossen. So herrscht auch unmittelbar vor diesem Angriff, vor einer Tragödie ohne Beispiel, der die ganze Welt fassungslos gegenüberstehen wird, einem dieser grausamen Zufälle, die die Sinnlosigkeit des Krieges bis zum Exzeß aufzeigen, die gespenstische Ruhe vor dem Sturm.
Das Angriffsziel, das dicke Schiff mit den drei Schornsteinen, liegt vor den englischen Flugzeugen hilflos da, wie ein unförmiger Käfer, der sich auf dem Rücken abstrampelt.
Um so besser, denken die Soldaten in den Maschinen, die wenig Lust haben, so kurz vor Torschluß noch zu fallen …
Am Oberdeck der ›Cap Arcona‹ braucht der von seinen Leuten gerufene SS-Sturmbannführer Langenfritz endlose Sekunden, um zu begreifen, daß das in seine große Standgerichtsszene geplatzte Mädchen seine Tochter Jutta ist.
Alle starren ihn an. Der selbstherrliche SD-Führer ist betroffen, unsicher, ist nicht mehr der hausgemachte Götze auf Zeit, der vorübergehend Allmächtige an Bord. Seine dünnen Lippen zittern stumm. Das verlegene Lächeln in seinem Gesicht wirkt dümmlich und aufgesetzt. Seine Augen sind klein und rund wie Knöpfe, wirken nicht mehr starr, sondern wieseln behend herum, und sein Mund sieht aus wie ein angebissener Apfel.
»Du?« faßt er sich mühselig. »Jutta?! Du bist hier, an Bord?«
Die Totenkopfleute in seiner Nähe sehen, wie sich seine fleischigen Ohrlappen mit Blut füllen, und sie betrachten den zuckenden Puls an seinen Schläfen.
»Wie kommst du hierher?« fragt der Sturmbannführer. »Seit wann bist du da?«
»Das tut nichts zur Sache«, sagt Jutta fest, aggressiv. Ihre Augen glänzen wie im Fieber. Sie steht leicht vornübergebeugt auf den Zehenspitzen, und es sieht aus, als ob sie Langenfritz gleich in das Gesicht schlagen würde, der noch immer nicht weiß, wie er sich benehmen soll.
Die Szene ist grotesk.
Der Rottenführer, mit der MP im Anschlag, läßt Christian Straff und die in Marineuniform geschnappten Häftlinge Fährbach und Gladon nicht aus dem Blick. In Christians Gesicht jagen sich Gefühle und Gedanken. Die beiden neben ihm stehenden Männer wirken steif und ergeben. Sie wissen, was auf Flucht steht, und so kann sich der Rest ihres Lebens nur darin erschöpfen, mit Würde zu sterben.
Seit sie im Lager sind, haben sie sich auf den Tod eingerichtet. Aber jetzt, so kurz vor der Freiheit, so nahe am Leben, nur einen Katzensprung von den rettenden Engländern und der wartenden Marion entfernt, ist es erbärmlich, erbarmungslos, hundsgemein.
»Ich will wissen, seit wann du an Bord bist«, fragt der SD-Führer barsch. Er sieht, wie im Hintergrund ein paar SS-Leute dezent grinsen.
»Meine Tochter«, erläutert der SS-Bonze hastig und setzt die Worte verschluckend hinzu: »Hab´ sie seit Jahren nicht gesehen … Sie ist bei der Mutter aufgewachsen.«
Hauptsturmführer Krappmann, der Lagerhaftführer, tritt sicherheitshalber zurück. Er will bei einem plötzlichen Ausbruch kein Blitzableiter sein. Er sieht verstohlen zu Christine hin, der Freundin des Sturmbannführers, die abwartend stehen bleibt und nicht mehr wie ein pickendes Huhn, sondern wie ein pikiertes Mädchen aussieht.
»Na, das ist 'n Ding«, sagt Krappmann halblaut zu Dreiling.
Der Vogelkopf feixt den Boden an. »Lügen muß der auch noch lernen«, brummelt er. »Seit wann hat Langenfritz eine Frau? Seit wann eine Tochter? Weiß doch jeder, daß er nicht verheiratet ist und hinter den Weibern herjagt wie der Spieß hinter dem Bettenbau …«
Die Männer des Sturmbannführers denken in den schlichten Grenzen ihres Horizonts. Bist ein schlechter Lügner, Sturmbannführer, sagen ihre Gesichter. Du hast Pech gehabt, Sturmbannführer. Kommt davon, wenn man mehr konsumiert, als man vertragen kann, und eine ist dir nachgereist, als du es dir mit der anderen gerade an Bord gemütlich gemacht hast … Mahlzeit,
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