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Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Titel: Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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einander anzustarren, wenn irgendwo die Flak schießt. Es hört sich an, als schlüge ein Holzhammer gegen die Schiffshaut.
    Nur einige aus der eingesperrten Masse haben so viel Kraft, die heimlich durchsickernden, gezielten Parolen der illegalen Lagerleitung weiterzugeben. Besonnene verfügen noch über einen Rest Brot oder eine Büchse aus den Liebesgaben-Paketen. Die anderen fahnden bei ihren Kameraden danach, bereit, wie Raubtiere über sie herzufallen.
    In einer Ecke steht ein alter Italiener und schluckt. Drei, vier stürzen sich auf ihn, reißen ihm die Kiefer auseinander. Nichts. Der Mann schluckte vor Hunger. Der Hunger wühlt in den Gedärmen und schafft Leere im Gehirn. Er macht die Opfer der Unmenschlichkeit zuletzt noch zu Unmenschen.
    Ein Junge von fünfundzwanzig Jahren, mit dem roten Winkel, reißt beim Fallen ein Bild an der Wand mit. Aus dem zersplitterten Holzrahmen ragt ein bunter Prospekt hervor, den ein KdF-Reisender der ›Cap Arcona‹ wohl als Scherz hier vor Jahren versteckte. Der Junge reißt den Karton heraus und starrt ihn an. Er liest die Menükarte, während seine Augen aus den Höhlen quellen.
    »Kaviar auf Remouladentunke«, stöhnt er. Als sei seine Stimme satt geworden, wird sie kräftiger. »Hamburger Spickaal … Karthäuser Sulzbecher mit Kalbshirn …«
    Die Umstehenden starren ihn an. Einige murren, aber sie beginnen zu kauen, zu schlingen, zu würgen, zu beißen, zu schlucken.
    »Kalbsnierensuppe mit Portwein …«
    Einer will sich übergeben, aber aus seinem leeren Magen kommt nichts mehr heraus.
    »Seezungenfilet auf Krebsschwänzen, amerikanisch«, liest der Junge weiter. Die Tränen schießen ihm aus den Augen.
    Die anderen schlucken mit und werden doch nicht satt davon. Sie vergessen ihre Ideale, die Mutter, die Braut, die Freiheit. Sie wollen nicht hoffen, nicht beten, nicht warten. Sie wollen fressen. Nichts als fressen. Gierig, bis sie umfallen. Bis es sie zerreißt.
    »Roastbeef am Spieß gebraten, mit Rotweintunke … Cannelonis nach Rossini …«
    Die am Boden Kauernden richten sich auf, starren mit leerem Blick den Vorlesenden an. Einer will ihm den Prospekt aus der Hand reißen.
    Der Junge liest mit gierigen Augen weiter: »Vierländer Ente nach Voison … Poularde nach Frühlingsart … Englische Hochrippe mit pikanten Gemüsen …«
    Diesmal kauen zwanzig, dreißig an jedem Wort, versuchen sich an jeder Silbe satt zu essen. Ihre Hände zittern, die Speicheldrüsen arbeiten, und doch hängt ihnen die Zunge im Mund wie vertrocknetes Leder.
    »Chateaubriand mit Sardellenbutter, gebackenen Kartoffeln und Kresse …«
    Der Kampflärm wird dichter, aber keiner hört es. Alle starren sie den Häftling mit der Menükarte an. Augen in toten Höhlen. Rissige Lippen. Skelette ohne Fleisch.
    »Kaukasischer Schaschlik …«
    Ein grüner Kapo geht taumelnd auf den Jungen zu. »Hör sofort auf!« keucht er.
    Der Junge liest weiter. Seine Stimme schluchzt, sein Magen ist mit Fett gefüllt. Seine Nerven versagen. Ihm ist schlecht, hundsmiserabel schlecht. Aber er sieht die Schüsseln, die Platten, die Tassen, die Terrinen, die Näpfe, die Töpfe. Die Gier ist größer als die Vernunft, und er liest und stöhnt, er weint und frißt. »Erdbeeren nach dem Carlton-Hotel … Sylvana-Torte …«
    Der Grüne geht auf den Jungen los.
    »Lass ihn«, schreien die anderen.
    Der Kapo ist außer sich, faßt den Jungen am Hals, schüttelt ihn. Die anderen möchten dem Jungen helfen, aber sie sind zu schwach dazu, oder sie fallen um, wenn sie es versuchen.
    Der Junge schlägt zurück.
    Die Speisekarte fällt zu Boden.
    Die beiden Häftlinge hängen einen Moment gemeinsam in der Luft. Dann knallen sie, ohne sich loszulassen, auf dem Boden auf.
    Ein Ruf, ein Schrei pflanzt sich fort, wälzt sich über Bord. Dringt in jedes Deck. Reißt jeden hoch. Lässt den Hunger vergessen: »Feuer im Schiff …«
    Hunderte, Tausende quellen aus den unteren Decks nach oben. Die Panik verstopft alle Gänge, alle Decks, alle Luken. Noch ist sie vorzeitig und grundlos. Aber sie überrennt die Bewacher, zertritt die Totenkopfleute, die sich in den Weg stellen wollen. Es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Sklaven und Herren. Die Rebellion der entfesselten Massenangst lähmt endgültig die Macht des Sturmbannführers Langenfritz.
    Der Häftling Melber, der heimliche Lagerleiter, hat die Panik präzise ausgelöst wie eine Höllenmaschine, die in der rechten Sekunde an Bord der ›Cap Arcona‹

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