Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen
Landsturmsoldaten stehen da wie Ehrenposten beim Staatsbegräbnis vor dem Trauerkatafalk. Die Häftlinge der an Oberdeck eingeteilten Kommandos pirschen mit runden Augen und verzehrender Gier im Gesicht um die gutmütigen Posten herum wie streunende Wildkatzen um Mülltonnen.
Ab und zu überfliegen englische Flugzeuge die Neustädter Bucht. Aber es bleibt ruhig. Keine Kampfhandlungen. Von Süden her lebt Schlachtenlärm auf. Melber läßt unter den Häftlingen das Zweckgerücht verbreiten, daß die geflüchteten Häftlinge Verbindung mit den Engländern aufgenommen hätten und die ›Cap Arcona‹ als schwimmendes KZ erkannt worden sei.
Ein Hafenboot legt an. Ein Gefreiter der Marine ruft durchs Megaphon: »Wir haben zwei Tote aufgefischt, gehören die zu euch?« Er deutet auf die starren Gestalten im gestreiften Anzug.
»Was geht uns das an!« ruft Dreiling, der Vogelkopf, zurück. »Tote interessieren uns nicht.«
»Was sollen wir mit ihnen anfangen?« fragt der Mariner zurück.
Hauptsturmführer Krappmann, der Lagerhaftführer, lacht schallend: »Ich zeig's euch«, sagt er. Er winkt ein paar Häftlinge heran und befiehlt ihnen, die toten Russen aus dem Bananenkeller über Bord zu werfen.
Entsetzt fahren die Matrosen davon, starren noch einmal zurück, wo ein SS-Offizier mit einer Flasche in der Hand sich über seinen Scherz halb totlachen will.
Als dieser 2. Mai 1945, ein strahlender, himmelblauer Tag, zu Ende geht, atmen Tausende von Häftlingen, 500 Landsturmsoldaten der Kriegsmarine, 25 SS-Offiziere, 24 Mädchen und 40 Totenkopfleute geschlossen auf. Die Nacht bringt die erwartete Ruhe. Auch die tägliche Orgie des SS-Sturmbannführers Langenfritz geht schon vor Mitternacht zu Ende.
Es ist kühl. Die Posten an Oberdeck tragen Mäntel mit hochgeschlagenem Kragen. In Zwei-Mann-Kabinen liegen jeweils kreuz und quer zwölf Häftlinge. Kein Zentimeter Raum ist frei. Trotzdem erscheinen den Gefangenen die Kabinen im Vergleich zu den Baracken als Luxusparadies. Wenn es ihnen gelingt, trotz des Hungers einzuschlafen, dann weckt sie die Angst wieder.
Noch 14 Stunden bis zur Freiheit, die die Kapitulation Neustadts vor den englischen Truppen für diese gestreiften Sklaven bringen wird – so sie noch leben.
Vor dem Funkdeck steht Maat Möhrenkopf Schmiere. Der britische Captain Gladon und der frühere deutsche Kapitänleutnant Fährbach verschwinden unbemerkt hinter der Tür. Straff hat die Uniformen besorgt. Sie passen nicht ganz, aber sie sitzen halbwegs. Nur die Mützen rutschen über die kahlgeschorenen Köpfe, aber sie werden die typischen Häftlingsschädel wenigstens verdecken.
»Elegant seht ihr nicht gerade aus«, brummelt Straff.
Die Zeit vergeht langsam, quälend. Christian füllt sie mit Gesprächen über Marion. Ab und zu antwortet Georg zu laut. Dann klopft draußen Möhrenkopf an die Türe, und es wird sofort wieder still. Die beiden Freunde übersetzen für den britischen Häftling das Gespräch ins Englische.
Die drei Männer wollen erst den Ansturm auf die ersten Barkassen abwarten, um nicht aufzufallen. Kurz nach zehn Uhr verläßt Christian Straff vorsichtig als erster das Funkdeck.
Sein Maat fängt ihn ab. »Scheiße im Kanonenrohr«, sagt er. »Oben sitzt Hauptsturmführer Krappmann, dieses besoffene Schwein, und der Vogelkopf … Ihr müßt warten.«
Es ist Mittag. Sie kauern noch immer im Funkdeck. Der Schweiß läuft ihnen über die Stirn. Zeit ist Leben. Melber, der stets Unsichtbare, geistert auf dem Oberdeck herum, erregt, nervös.
14 Uhr. Die Schießerei in Neustadt verstärkt sich. Gelegentlich weht der Wind das Brummen von Panzern über das Schiff. Die Jabos gleiten wie Hornissen über die Deckaufbauten hinweg. Noch immer fällt kein Schuß.
Kurz nach 14 Uhr erscheint endlich Möhrenkopf. »Los, rasch … Sie essen jetzt.«
Christian geht zunächst voraus. Er dreht sich um. Ausgerechnet Georg macht eine unglückliche Figur in seiner echten Uniform. Ein paar Marinesoldaten begegnen ihnen und grüßen schneidig. Straff grinst. Dann läßt er Captain Gladon vor sich hergehen, bleibt in der Mitte.
Georg folgt ihm. Er geht auf den Wachhabenden zu, den Untersturmführer mit dem Milchgesicht, und zeigt ihm die Passierscheine.
»Paß auf, daß dir die Tommies nicht den Hintern rösten, Kumpel«, sagt das Milchgesicht. Er wirft den beiden Häftlingen in der Marineuniform, die an Straff vorbei auf die Reling zugehen, nur einen flüchtigen Blick zu. »Na, ihr drei
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