Fünf
davon ausgehen, dass er seine Opfer willkürlich auswählt, sie eine Zeitlang beobachtet und dann aus dem Leben reißt. Wie Gott, verstehen Sie? Er sieht zu, wie die von ihm Auserwählten ihren Alltag bestreiten, Auto fahren, sich um ihre Familien kümmern, und er weiß, dass er dem ein Ende bereiten wird, zu dem Zeitpunkt und auf die Art, die ihm gefällt. Wie ein sadistisches Kind, das einen Ameisenhaufen beobachtet und dann brennende Hölzchen hineinsteckt.»
Nun hob Kossar einen Finger. Er sah plötzlich aus wie eine moderne Ausgabe von Lehrer Lämpel aus Max und Moritz. «Aber im Unterschied zu den meisten Tätern, die so vorgehen, stellt dieser hier eine Verbindung zwischen den Opfern her. Er leitet uns von einem zum anderen: Nora Papenberg war der Wegweiser zu Herbert Liebschers Körperteilen. Die wiederum führten uns zu Christoph Beil und weiter zu Bernd Sigart. Nun ist Beil verschwunden, und Sie», er sah Beatrice an, «haben den Eindruck, er hätte Frau Papenberg gekannt, das aber bewusst verschwiegen.»
«Ja. Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir.»
«Das ist hochinteressant.» Er stützte das Kinn in die Hand, die Stirn gerunzelt, den Blick zur Seite gewandt.
Mein Gott, was der für eine Show abzieht, dachte Beatrice. «Und, was schließen Sie daraus?», fragte sie in einem Ton, der keinen Zweifel an ihren geringen Erwartungen ließ. Doch Kossar war davon nicht aus dem Konzept zu bringen.
«Es gab vor einigen Jahren einen Fall in den USA , da tötete ein neunundzwanzigjähriger Mann Menschen, die eine bestimmte Hunderasse hielten. Sie kannten sich untereinander nicht, hatten aber dieses eine gemeinsame Merkmal. Möglicherweise finden wir etwas Derartiges bei Herbert Liebscher und Nora Papenberg auch.»
Ein Gedanke, den man zumindest nicht sofort vom Tisch wischen durfte. «Der beste Anhaltspunkt bisher», resümierte Beatrice, «ist der Wunsch nach Aufmerksamkeit, den der Owner offenbar hat. Was würde passieren, wenn man ihm die entzieht?»
Kossars schiefes Lächeln machte ihn Beatrice beinahe sympathisch. «Wahrscheinlich würde er versuchen, sie zu erzwingen.»
«Dann glaube ich, dass es Zeit ist, unsererseits die Spielregeln zu verändern», sagte sie. «Wenn es stimmt, was Sie über ihn erzählen, und er am liebsten alle unsere Schritte miterleben würde, verfolgt er sicher die Nachrichten, kauft jede Zeitung, um so viel über den Stand der Ermittlungen zu erfahren wie möglich. Wenn da plötzlich nichts mehr kommt – das würde ihm bestimmt gar nicht gefallen.»
«Absolut richtig.» Das Lächeln in Kossars Gesicht vertiefte sich. «Schade, dass Sie Ihr Studium nicht abgeschlossen haben.»
«Sehr schade.» Es war Beatrice egal, dass ihre Stimme gereizt klang. «Wie auch immer, wir sollten diese Erkenntnisse nutzen.»
Zwei Stunden später hatte die Staatsanwaltschaft auf Hoffmanns Intervention hin eine Nachrichtensperre verhängt.
Der Bus rüttelte auf der unebenen Straße. Bernd Sigarts Stirn schlug leicht gegen die Scheibe, an die er sich gelehnt hatte und die bei jedem seiner Atemzüge beschlug. Seinen Atem zu beobachten beruhigte ihn. Jedes Einsaugen, jedes Ausstoßen von Luft war eines weniger, das er zu bewältigen hatte. Die Anzahl war endlich.
Er schloss die Augen. Vielleicht würde er diesmal einfach sitzen bleiben, wenn die Station kam. Im Bus immer wieder die gleiche Strecke fahren, bis jemand ihn hinauswarf.
Nein, ermahnte er sich selbst. Müdigkeit durfte ebenso wenig ein Vorwand sein, sich fallenzulassen, wie Lebensüberdruss und Verzweiflung. Die Sitzung würde stattfinden, wie jede Woche. Und sie würde nichts bringen, wie jede Woche.
Als er aus dem Bus stieg, kam ihm eine Frau mit einem hinkenden Schäferhund entgegen, doch erst als er die Türklingel der Praxis drückte, wurde ihm bewusst, dass er nicht wie früher sofort eine Blitzdiagnose erstellt hatte, für sich selbst, zur Übung.
Ein weiterer Abschied. Er war kein Vater und kein Ehemann mehr – nun hörte er allmählich auf, ein Tierarzt zu sein.
Die Therapiepraxis von Dr. Anja Maly war in entspannungsfördernden Cremetönen eingerichtet, der einzige richtige Farbfleck bestand in einem Meditationsbild, das sattblau über dem Schreibtisch hing. Alles hier war auf Beruhigung ausgerichtet, nicht zuletzt Maly selbst, die majestätisch und langsam wie ein großes Schiff von der Fensterfront her auf ihn zukam, ihm die Hand drückte und auf den Lehnsessel wies, auf dem er Platz
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