Für alle Fragen offen
mehr als die Gewichtigkeit. Ein herzlicher Analytiker war er und ein disziplinierter Plauderer. Noch aus dem Lebensüberdruss vermochte er Meisterwerke der Liebenswürdigkeit zu schaffen.
Daniel Kehlmann, der Autor des zu Recht erfolgreichen Romans Die Vermessung der Welt, wurde in einem Interview gefragt, ob er nicht bei neuen Büchern mitunter den Eindruck habe, »da hätte ein ordentliches Lektorat nicht geschadet«. Kehlmann antwortete: »Eher bei alten Büchern. Zum Beispiel bei Krieg und Frieden, den Verlorenen Illusionen oder Effi Briest. Da sind viele Stellen, die ein aufmerksamer Lektor gestrichen oder gestrafft hätte.« Was ist davon zu halten?
»Und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht« – heißt es in der Dreigroschenoper . Die Autoren sind es, die, wenn es gut geht, im Lichte stehen. Und die Lektoren bleiben, was immer auch geschieht, im Dunkel. Sie entdecken und fördern, beraten und erziehen, stimulieren und kontrollieren. Sie werden als Marktkenner und Feinschmecker, als Korrepetitoren und Mentoren gebraucht, sie müssen sich sogar als Beichtväter bewähren. Sie dienen der Literatur als Hebammen – und bisweilen lieben sie die Kinder ihrer Schützlinge, als wären es ihre eigenen.
Von allen Aufgaben des Lektors scheint mir keine wichtiger zu sein als diejenige, begabten Autoren, jüngeren zumal, zur Selbstverwirklichung zu verhelfen. Letztlich will der Verlagslektor, der literarische Werke betreut – in dieser Hinsicht dem Kritiker ähnlich -, nur eins: zu schriftstellerischen Leistungen beitragen.
Somit ist er imstande, auf die zeitgenössische Literatur einen (in Ausnahmefällen beträchtlichen) Einfluss auszuüben. Über den tatsächlichen Anteil der Lektoren an den publizierten Büchern, der sich übrigens fast nie ermitteln lässt, wird die Öffentlichkeit in der Regel nicht informiert.
Jedenfalls geht, was vom Lektor erwartet wird, auf keine Kuhhaut. Er muss natürlich intelligent, gebildet und fleißig sein, bescheiden und taktvoll. Was gut in dem schließlich erschienenen Buch ist, geht auf die Rechnung des Autors, das Schwache,Verfehlte und Missratene, versteht sich, hat der Lektor übersehen, wenn nicht verschuldet. So ist es immer. Und auf das, was er an Fehlern und Mängeln, die im Manuskript waren, beseitigt oder verhindert hat, kann er natürlich stolz sein, aber er muss es unbedingt für sich behalten. Diskretion
gehört zum Beruf des Lektors – wie des Frauenarztes.
Sicher ist – und das hat Daniel Kehlmann treffend gesagt -, »ein Lektor kann aus einem mittelmäßigen Buch kein Meisterwerk machen«. Aber stimmt seine Ansicht, dass ein Meisterwerk durch Längen, Wiederholungen und überflüssige Stellen schlechter werde? Recht hat er, doch mit der Einschränkung, dass derartige Mängel die Lektüre des Buches mühsamer machen und nicht selten die Zahl seiner Leser verringern. Gute Lektoren können es erreichen, dass die Texte glatter, fehlerloser, perfekter werden – und hier und da auch leichter lesbar. Doch ob sie wirklich nennenswert besser werden, ist zumindest sehr zweifelhaft.
Dass in Romanen der Weltliteratur der Lektor manches hätte streichen sollen, ist schon richtig.Vielleicht hat er es gewagt, Honoré de Balzac oder Leo Tolstoi einen entsprechenden Vorschlag zu machen, aber die Herren waren eigensinnig. Was soll man heute tun? Ich meine: nichts.
Werke, die Jahrhunderte glanzvoll überdauert haben, soll man nicht unserem Geschmack anpassen. Wenn man damit anfängt, dann wird
man sie alle zehn oder zwanzig Jahre neu bearbeiten, neu zurechtstutzen müssen. Die so entstehenden Fassungen längst bewährter Romane würden niemandem dienen, wohl aber ein großes Durcheinander zur Folge haben. Auch Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt soll bleiben, wie er ist.
Als Kind liebte ich Karl May, ich war enttäuscht, als unsere Lehrerin mir erklärte, dies sei »Trivialliteratur«. Was halten Sie von diesem Autor?
Eine schwierige Frage. Aber Ihre Lehrerin sieht die Sache richtig. Das ist tatsächlich Trivialliteratur. Gehört Karl May vielleicht deshalb zu den meistgelesenen europäischen Prosaschriftstellern? Dennoch habe ich nichts dagegen einzuwenden, dass Kinder und Jugendliche, wenn es ihnen Spaß bereitet, vorübergehend Karl May lesen. Er genierte sich nicht, die billigsten literarischen Mittel zu verwenden. Auch vor den ärgsten Primitivismen schreckte er nicht zurück. Sentimentalitäten hat er nie gemieden. Doch seine Gesamtauflage in
Weitere Kostenlose Bücher