Für alle Fragen offen
hören oder Dostojewskis Brüder Karamasow oder vielleicht Puschkins Eugen Onegin . Daraus geht nur hervor, dass jedes Volk eine andere Perspektive hat. Und das ist gut so und erfreulich.
Man stelle sich vor, die Superlativ frage würde die Lyrik betreffen. Da wäre eine Einigkeit unter den Nationen vollkommen unmöglich. Die Franzosen würden ein französisches
Gedicht nominieren, die Engländer ein englisches, die Deutschen ein deutsches und die Polen ein polnisches, denn es gibt herrliche polnische Gedichte, deren Schönheit nur jene ermessen können, die des Polnischen mächtig sind. Ist es in der Musik, da sie doch von der Sprache unabhängig ist, wirklich anders? Heute gilt als der größte Komponist aller Zeiten natürlich Mozart. Doch so war es nicht immer. In meiner Jugend war auf Platz eins Beethoven und irgendwann wohl auch Bach. Vielleicht, frage ich ganz schüchtern, ist es unergiebig und überflüssig, ein derartiges Wettrennen der Genies zu veranstalten?
Lesbarkeit und Umfang sind für Sie beachtliche Größen. Ist die Lektüre sehr umfangreicher Romane nur Pflicht für leidensfähige Kritiker?
In der Tat werden sehr umfangreiche Romane vor allem von Literaturprofessoren, Kritikern und Lektoren gelesen und natürlich von Studenten, die sich auf ihre Prüfungen vorbereiten. Ich habe einmal den Satz gefunden: Alle Bücher sind zu lang, mit Ausnahme von Telefonbüchern. Ich glaube, diese Weisheit stammt von Hans Magnus Enzensberger. Von dem Schweizer Adolf Muschg schätze ich vor allem zwei Erzählbände: Fremdkörper (1968) und Liebesgeschichten (1972). Meine Kritik der Fremdkörper endet mit den Worten: »Das ist ein Buch für Leser.« Auch die Rezension des anderen Bandes endet mit entschiedener Zustimmung. Dann habe ich mich einige Zeit mit anderen Autoren befasst.
1993 erschien Muschgs Roman Der Rote Ritter . Der Stoff interessierte mich, doch als ich den Umfang sah (1006 Seiten!), verzichtete ich sofort auf die Lektüre. Autor und Verlag versuchten, mich zu überreden: In dem Buch seien sehr gute Kapitel und Abschnitte. Das
mag ja sein, aber ich habe nicht die Zeit, die Rosinen in diesem gigantischen Kuchen zu suchen. Muschg wird mir vielleicht antworten, dass Thomas Manns Joseph und seine Brüder und so weiter. Ich würde wohl erwidern, dass Bücher von Genies nicht als Argumente verwendet werden sollten. Bis heute habe ich vom Roten Ritter keine Zeile gelesen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass mir Vorzügliches entgangen ist.
Beim Wiederlesen finde ich das Werk Joseph Roths ziemlich ungleichmäßig in seiner künstlerischen Qualität. Gibt es Romane Roths, die auch Sie für misslungen halten?
Nur Dilettanten und Nichtskönner produzieren laufend auf demselben Niveau. Talente oder gar Genies schreiben nicht nur das, was sie schon können, sondern versuchen zu schreiben, worum sie sich noch nie bemüht haben. Dabei kann das Neue misslingen. Auch bei Shakespeare gibt es schwache oder doch zumindest schwächere Stücke, auch bei Balzac dürftige Romane, auch bei Tolstoi langweilige Kapitel, auch bei Thomas Mann enttäuschende Novellen.
Joseph Roth war sein Leben lang auf die Einkünfte von seinen schriftstellerischen Arbeiten angewiesen. Vieles hat er schnell verfasst und, kaum korrigiert, an die Redaktion geschickt – und schon das musste dazu führen, dass die Niveauschwankungen innerhalb seines Werks oft unverkennbar und bisweilen groß, ja, ärgerlich sind. Wer sich gezwungen sah, Fortsetzungsromane für Zeitungen zu schreiben (und das hat auch Dostojewski
getan), und wer, der Not gehorchend, nicht selten die ersten Kapitel seines Romans drucken ließ, bevor das Manuskript des ganzen Romans abgeschlossen war, der war sich dessen bewusst, was das zur Folge haben musste.
So gibt es unter den vielen Romanen von Joseph Roth natürlich auch solche, die mehr oder weniger misslungen sind. Aber auch in diesen Romanen findet sich in der Regel genug, um ihre Lektüre zu einem Vergnügen zu machen. Dies gilt vor allem für eingeschobene Miniaturen, für poetische Impressionen, für ironische Schilderungen und traurig-humoristische Episoden, die häufig mit der eigentlichen Handlung nur in einem losen Zusammenhang stehen.
Doch sündigte Roth nie gegen die Natürlichkeit des Tonfalls. Er liebte weiche Farben und harte Konturen. In seinen meist wortkargen Dialogen wird das Entscheidende durch die Pausen ausgedrückt: Das Schweigen seiner Helden hat unendlich viele Schattierungen. Er liebte die Anmut
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