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Für alle Fragen offen

Titel: Für alle Fragen offen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Lyriker. Allerdings waren Kontakte mit ihm nicht leicht, zumal er eine sonderbare und ziemlich permanente Abneigung gegen das Telefonieren hatte. Wenn wir über Poesie sprachen, musste man aufpassen, dass man nicht Dichter lobte, die ihm missfielen. Dann verstummte er und wurde bald ärgerlich.

    Über Kritiker konnten wir uns nur selten einigen. Aber so ist es beinahe immer: Wenn ein Autor sagt, was er von einem Kritiker hält, sollte man stets nachprüfen, wie dieser Kritiker das letzte Buch dieses Autors beurteilt hat. In den siebziger Jahren erhielt Rühmkorf in München den Erich-Kästner-Preis. Ich wurde gebeten, die Laudatio zu halten. Rühmkorf war mit meiner Rede – ich habe ihn, da es eine Lobrede war, naturgemäß nur gelobt, und mit Nachdruck – sehr zufrieden. Damals waren unsere Beziehungen eine Weile höchst erfreulich.
    Sie wurden irgendwann durch einen für Rühmkorf sehr typischen Vorgang gestört. Nachdem lange von ihm nichts zu hören war, schickte er mir eines Tages ein neues Gedicht – für die Frankfurter Allgemeine Zeitung , deren Literaturchef ich inzwischen war. Dies Gedicht kam mit einem Brief, in dem Rühmkorf verlangte, dass ich ihm sofort, noch am selben Tag, antwortete, ob ich das Gedicht für die Zeitung nehmen würde, zumal andere Redaktionen auf neue Manuskripte von ihm ungeduldig, ja, gierig warteten.
    Ich las den Text aufmerksam. Er gefiel mir nicht sonderlich. Bei mir arbeiteten damals
drei Redakteure. Der eine ist heute bei der Zeit , der andere beim Spiegel , der dritte bei der Welt . Ich schickte ihnen das Rühmkorf-Manuskript zur Begutachtung. Alle drei gaben mir das Manuskript mit beinahe wörtlich demselben Urteil: »Gedicht nicht stark, lieber darauf verzichten.«
    Rühmkorf bekam also das Gedicht zurück. Ich lobte es und schrieb dem Autor, dass wir auf diesen Text nun doch verzichten wollten, was ihm nichts ausmachen werde, da es ja viele andere Redaktionen gebe, die einen neuen Rühmkorf-Text geradezu sehnsüchtig erwarteten. Unser Poet war empört. Jedenfalls hatte er meine Ironie verstanden. Jetzt war ziemlich lange Funkstille zwischen uns.
    Rühmkorf war ein sehr empfindlicher Lyriker. Es gibt auch weniger empfindliche Poeten, mit denen die Zusammenarbeit erheblich leichter ist. Aber ihre Gedichte sind denn auch viel schwächer als die von Peter Rühmkorf, dem Dichter, dem nichts Poetisches fremd war.

4
    Die Beschäftigung mit Literatur ist eine gute Schule der Toleranz
    Fragen, die meinen
Widerspruchsgeist wecken

    Können Sie erklären, weshalb es von Kritikern keine erwähnenswerten Romane oder Gedichtbände gibt?
    Ebenso könnte man fragen, warum sich noch nie ein Musikkritiker als Violinvirtuose, als bedeutender Dirigent oder Komponist bewährt hat. Man hat auch noch nie gehört, dass ein Sportberichterstatter zugleich als Boxer oder Langstreckenläufer erfolgreich war.
    Für die Kritik ist eine ganz bestimmte Begabung erforderlich, nicht aber die Fähigkeit, die kritisierten Werke zu schreiben. Der Essayist und Kritiker Hans Egon Holthusen (1913 bis 1997) hat auch Gedichte und einen Roman verfasst, die allesamt schroff abgelehnt wurden. Manche seiner essayistischen Schriften aber hat man mit Interesse diskutiert.
    Ein noch heute wirkender Kritiker von Format hat auch einen Roman geschrieben, doch die Arbeit abgebrochen und das Vorhandene nie publiziert. Recht hat er daran getan, denn man hätte ihm gesagt: »Schuster, bleib bei deinem Leisten.« Ein anderer Kritiker hat mehrere belletristische Bücher publiziert. Dies hat, um es vorsichtig auszudrücken, seinem Ruf und Ansehen nicht genutzt.

    In den Dramen von Friedrich Schiller habe ich keinen Humor gefunden. Jenes Lachen und Weinen, das bei Shakespeare vorkommt, gibt es bei ihm nicht. Habe ich recht?
    Diese Frage missfällt mir. Gleichwohl will ich sie beantworten. Doch zunächst möchte ich eine kleine Episode erzählen.
    1972 sah ich in Frankfurt die deutsche Erstaufführung des Schauspiels Lear von Edward Bond, einer szenischen Auseinandersetzung mit Shakespeares König Lear . Mich hat das Stück enttäuscht. Vor dem Theater traf ich meinen vorzüglichen Kollegen Hellmuth Karasek. »Ihnen hat das gewiss gefallen«, sagte ich provozierend. Karasek antwortete trotzig: »Jawohl.« Ich verwies auf die Szene mit der Blendung Gloucesters. »Dies hat Shakespeare«, so sagte ich, »besser gemacht.« Darauf Karasek, wütend: »Shakespeare hat alles besser gemacht.« Ich verstummte – und habe Karaseks

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