Für ein Lied und hundert Lieder
gehärtet
wie werden Patronen gemacht
wie geht es dann dem Großkopf, wenn sie ihn erschossen haben
steht er auf, schlägt sich auf den roten Hintern
verleitet den Dichter, sich die Eier abzuschneiden zu Ehren der Götter?
Ein Polizist sagt, ich stellte dir eine philosophische Frage:
Willst du Urin trinken oder Hodensuppe?
Ist das vergleichbar mit der Frage, ob einer Tee will oder Rinderkleinbrühe?
Fremder, wohin willst du zurück?
Ein Gang. Zwei Gefangenenkäfige
die Fressluken, seit ewigen Zeiten gehen sie auf
Samstag, durch die zwei Meter dicken Mauern dringt lyrischer Fleischgeruch
das ist der Geruch von Schweinen, Mädchen und reiner Poesie
Heute Nacht habe ich bunte Träume, Mutter
4
Das Eisen, das Füße und Hände kontrolliert und Löcher in Schädel bohrt, wer hat das erfunden?
Im Untergrund ist Wasser, es zerfrisst das Eisen
das Mahlen der Flüssigkeit, die keimt in den Leichen
am Himmel ist durchsichtiges Eisen, Eisen, das Engel einsperrt
Wer Feuer stiehlt, wird in den Schnabel eines Adlers genagelt
so steht es in den Märchen über den Himmel
5
Leben ist Flucht
Familie und Zelle sind Herbergen
Frau, Kinder, Polizisten sind der gleiche Dreck
Der Gürtel übertrifft oft die Patronen an Kraft und Geschwindigkeit
Verräter sind in Essschalen, Töpfen, Wasserkrügen
Vorsicht, Zunge vergiftet Gebiss
Von draußen kommt ein Schwein in Menschenhaut
Vorzeichen des Schlachttags, lauf
Regen tropft aus der Mundhöhle des Winds
die Sohlen des Fremden knirschen
Wind, am ganzen Körper der Wind der Augen
das Skelett trägt die Robe des Windes
das Skelett trägt Fleisch und Haut des Windes
Wind wird aufgeschreckt von Menschen, Wind hat ein Gewehr auf der Schulter
der Fremde ist Wind, ein kranker Wind, Wahn
6
Kein Mensch sich zu kümmern, kein Mensch zu töten, kein Weg zu laufen
der Fremde geht in die Falle, wird herausgeprügelt
aus dem Schaft des Körpers wird die Seele gezogen
Töte den Körper noch einmal!
Auf der Bühne der Geschichte
wird für den Fremden ein anderer Fremder auf den Richtplatz geführt
Januar 1994, im Gefängnis Nr. 3 irgendeiner Provinz
Über Liao Yiwu
Liao Yiwu, geboren 1958 in der Provinz Sichuan, wuchs als Kind von Eltern »ohne dauerhafte Aufenthaltserlaubnis« in der großen Hungersnot der 60er Jahre auf. 1989 verfasste er das Gedicht ›Massaker‹, das in Windeseile Verbreitung fand, auch über die Grenzen Chinas hinaus. Hierfür wurde er vier Jahre inhaftiert und schwer misshandelt. 2007 wurde Liao Yiwu vom Unabhängigen Chinesischen PEN-Zentrum mit dem Preis »Freiheit zum Schreiben« ausgezeichnet, dessen Verleihung in letzter Minute verhindert wurde. 2009 erschien auf Deutsch sein von Kritik und Publikum euphorisch begrüßtes Buch ›Fräulein Hallo und der Bauernkaiser – Chinas Gesellschaft von unten‹, das Menschen vom Bodensatz der chinesischen Gesellschaft porträtiert und in China verboten ist. 2011, als ›Für ein Lied und hundert Lieder‹ in Deutschland erschien, gelang es Liao Yiwu, China zu verlassen. Seitdem lebt er in Berlin. Im November 2011 wurde ihm der Geschwister-Scholl-Preis verliehen.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Impressum
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Eine chinesische Version von Liao Yiwus Gefängniserinnerungen ist im Jahr 2000 im Morrow Publishing House in Hongkong unter dem Titel »Zheng-ci« (»Zeugenaussage«) erschienen. Das Buch ist dort nicht mehr lieferbar, in China ist es verboten. Für die deutsche Ausgabe hat Liao Yiwu seine Erinnerungen überarbeitet und etwas gekürzt.
© Liao Yiwu 2011
Für die deutsche Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
Mit dem Gedichtzyklus »Liebeslieder aus dem Gulag« und einem Brief von Liu Xiaobo an Liao Yiwu
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400985-8
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