Für ein Lied und hundert Lieder
und ihn einmal verbunden hatte, und jetzt, wenn sie jetzt ein Manuskript von ihm zu Gesicht bekam, fing sie an zu schreien, hysterisch zu schreien.
Das Massaker ging weiter, in ihrem Blut, da war ein Sinologe, der hatte sein Gedicht »Massaker« einfach mit »Der Schrei« übersetzt, der lange Schrei von Menschen, denen keine Wahl mehr bleibt.
Es geschah am Ostfenster
Feifei, meine große Schwester, sie kam bei einem Autounfall ums Leben. Sie war 37 Jahre alt. Ich habe darüber jede Menge Gedichte geschrieben, traurig-schön und mit Stil. Ich habe ganz bewusst alles weggelassen, was mit Dreck und Blut zu tun hat, ich fand, so würde ich der Toten, die in ihrer Art nicht von dieser Welt war, gerecht. Ich habe es mir einfach gemacht, zur Wahl standen Wahrheit und Ewigkeit, ich habe mich für die Ewigkeit entschieden. Derartige Traumwelten schüttelt jeder Romantiker wie ich aus dem Ärmel, Feifei wurde zu einem anderen Wesen, sie schwebte empor und verband sich mit den Zehntausend Dingen der Welt.
Ich schwadronierte etwas von »Religion des Blutes« und vergaß dabei, dass die Tote auch Augen gehabt hatte.
An einem bösen Tag im April eines Drachenjahres trug ich dieses Telegramm bei mir: »Autounfall, Schwester tot«. A Xia, die beim Abschied aussah wie eine weinende Niobe, brauchte mit Schiff und Auto für die 1000 chinesischen Meilen von der Bergstadt Fuling im Osten bis nach Mianyang im Westen von Sichuan zwei Nächte, und ich wurde, weil mein Linienschiff von Fuling nach Chongqing Verspätung gehabt hatte, dort einen ganzen Tag aufgehalten. Ich traf zufällig einen Dichterkollegen, einen Arzt, und wir gingen zusammen essen. Es war völlig verrückt, ich fing auf einmal an, irgendwelches sinnlose Zeug von mir zu geben, und ich hatte einen unglaublichen Appetit – und doch das Gefühl, das war nicht mein Mund, der da schwadronierte und vollgestopft wurde. Eine Stimme sagte mir, ich müsste trauern, aber ich konnte es nicht, ich konnte unter dieser strahlenden Frühlingssonne nicht trauern. Wie hätte ich sie auch mit einem Autounfall in Verbindung bringen sollen, meine Feifei, dieser leichte Regen, dieser sanfte Windhauch, mit ihren regelmäßigen, weißen Zähnen, mit ihren wie mit Nadeln gestochenen Grübchen?
Um zehn Uhr abends bestieg ich den Zug in Chongqing und schlief. Mitten in der Nacht wurde ich wach, in kalten Schweiß gebadet, das Abteil war zum Brechen voll, die stickigen Ausdünstungen von Menschen und Abfall drehten mir den Magen um, ich lehnte mich gegen das Fenster, es würgte mich, ein kalter schneidender Wind zog herein und schmerzte in der Lunge. Ich stürzte einen großen Schluck kaltes Wasser herunter und stöhnte: »Rasende Leichenkammer.«
Feifei stand draußen, vor dem Fenster, das lange Haar aufgelöst. Schnell senkte ich den Kopf. Ich würde bald am Ziel sein, immer klarer trat mir ins Bewusstsein, dass ich Angst hatte, Angst, ihre sterblichen Überreste zu sehen, auch wenn ich sie im Traum schon »gesehen« hatte.
Vom Bahnhof in Mianyang hastete ich direkt zu dem vertrauten alten Haus Nr. 87 in der Straße zum Roten Stern, der Kopf der Leiche, die meine Feifei war, war geschwollen, ein Stock, den es nicht brauchte, stützte mich, als ich nach vorn trat, als ich die Hand hob, um anzuklopfen, ging die Tür auf.
Da war keine Tür, ich hatte wie ein Shamane auf dem Land zweimal ins Leere geklopft, die erschrockenen Gesichter der Verwandtschaft rissen mich aus meinem Traum. »Meine Schwester«, ich suchte den Raum mit Blicken ab, »und meine Schwester?«
Niemand beachtete mich. Das Zimmer war schon wieder aufgeräumt, die Trauerbanner lagen dick zusammengelegt in der Ecke, wo der Abendwind hinkam, zerstob draußen auf der Terrasse die schwarze Asche, die vom Verbrennen der Kränze übrig war. Die Verwandten standen im Kreis herum wie ein Teil der alten Möbel und bewachten diese erschütternde Urne, die in der Mitte stand.
»Wieso kommst du jetzt erst?«, fragte meine jüngere Schwester Xiaofei vorwurfsvoll.
»Wir haben drei Tage auf dich gewartet«, hielt mein Schwager mir vor, »es ist warm, wir konnten nicht länger warten.«
»Feifei hat nicht sterben wollen«, seufzte Vater.
Ich zog das Telegramm heraus, streichelte es eine Ewigkeit, als hätte ich sie nicht mehr alle, erst jetzt fiel mir auf, dass es mich zwei Tage zu spät erreicht hatte!
»Wie ist das möglich?!« Alle schauten einander bestürzt an. Ich war wie vom Blitz getroffen, Tränen schossen mir aus den
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