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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Vorsitzende Chen sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, lehnte sich zur Seite und versuchte alles, um sich mir in den Blick zu stellen. Es fing an, nach totem Fleisch zu stinken, immer wieder mussten wir uns Zahnpasta um die Nasenlöcher schmieren, ich konnte nicht glauben, dass ich so auf den Hund gekommen war.
     
    Und tatsächlich dauerte es nicht lange, und der Blasse Magister wurde wegen Raubes und der Kleine Schwarze Teufel wegen Mordes zum Tode verurteilt, unser Kleiner Toter zitterte vor Schreck wie Zucker im Sieb. Diese vier lebenden Toten bildeten eine Gruppe, sie schworen, sie würden auch auf dem Weg in die Unterwelt Brüder bleiben.
    Jeden Abend bildeten sie mit dem Toten Chen an der Spitze eine Reihe und übten sich im Gleichschritt. Wenn sie an der Wand ankamen oder am Eisengitter, machten sie eine ordentliche Kehrtwendung. Durch das Geschepper und Geklingel ihrer Fesseln war in der Zelle ein Lärm wie in einer Schmiede.
    Manchmal waren sie von ihrer Überei so aufgekratzt, dass der Tote Chen den Mund verzog und ein paar Zeilen eines revolutionären Märtyrerliedes von sich gab: »Müssen weit in Fesseln gehn, den Lieben sag Auf Wiedersehn …«
    Und dann stimmten die anderen ein: »Und wenn der Kopf auch fällt, nicht der Glaube brach, für jeden, den ihr tötet, kommt ein andrer nach!«
    Die gefesselten Beine schritten wie auf der Bühne, ein großartiger Anblick. Selbst die Wachsoldaten vom ersten Stock wurden angelockt, stellten das Gewehr zur Seite, vergaßen ihre Pflicht und applaudierten.
    Danach hatten wir eine tiefe und vollkommen geräuschlose Nacht, als unser Kleiner Toter, der gerade erst neunzehn geworden war, einen langen Schrei ausstieß, vom Bett aufsprang, den Kopf gegen die Wand schlug und damit alle anderen aufweckte.
    »Wehe, das meldet einer!«
    Der Tote Chen kam hoch und sagte warnend: »Die falsche Assel erwürge ich!«
    Der Blasse Magister nahm den Kleinen Toten in den Arm und wischte ihm das Blut von der Stirn; der Kleine Schwarze Teufel zog seine Fesseln gerade, verschob sie leicht und meinte tröstend: »Bruder, nimm es dir nicht so zu Herzen! Dass du nicht älter wirst, das war dir vorbestimmt, wenn die Gewehre knallen, weißt du von alledem nichts mehr.«
    »Richtig, richtig«, stimmte der Blasse Magister zu, »das Leben ist wie eine Prüfung, der Knast ist eine Prüfung, und die Hinrichtung ist wieder eine Prüfung.«
    Unter der Truppe herrschte hektische Betriebsamkeit, als oben durchgeladen wurde: »Aufstehen!«, brüllte der Wachsoldat.
    Die vier lebenden Toten mussten gehorchen, unter den eiernden Deckenventilatoren kreiste ein großer, dunkler, ungleichförmiger Schatten, wie ein Bomber, randvoll mit Sprengstoff. Alle versuchten, die Sache runterzuspielen. Denn ein Suizidfall in der Zelle ist fast so schlimm wie Flucht.
    »Was ist hier los?«, fragte der Wachsoldat.
    »Gar nichts«, sagte der Tote Chen und zwang sich zu einem Lachen, »der Kleine hat Halluzinationen.«
    »Nicht wahr!«, lachte der Wachsoldat kalt, drehte sich um und wollte gehen.
    »Ich bitte Sie, machen Sie keine Meldung!« Als der Tote Chen diese Reaktion sah, war er so gereizt, dass er regelrecht brüllte. Dann ging er polternd auf die Knie und flehte: »Soldat der Volksbefreiungsarmee, kleiner großer Bruder, wir werden alle bald sterben müssen, lassen Sie uns einfach einmal!«
    »Wer hat euch gesagt, ihr sollt ein Verbrechen begehen und den Tod regelrecht suchen?«, sagte der Wachsoldat vorwurfsvoll.
    »Den Tod suchen? Sie haben ganz recht«, dem Toten Chen liefen Tränen über das Gesicht, »aber auch das übelste Stück Dreck hat einmal einen Vater und eine Mutter gehabt, weil Sie und ich und alle Vater und Mutter gehabt haben, lassen Sie ihn für diesmal, kleiner großer Bruder, er ist erst neunzehn, er hat Angst vor dem Sterben.«
    Auch die andern Todeskandidaten gingen jetzt auf die Knie und flehten ihn an: »Wir machen Kotau vor Ihnen, Soldat der Volksbefreiungsarmee, lassen Sie Gnade walten, Soldat!«
    »Wenn ich Dienst habe, haltet euch an die Ordnung«, das Herz des Soldaten hatte sich von den Tränen erweichen lassen, »mir schmeckt das hier auch nicht!«
    »Er war nur kurzzeitig durchgedreht«, versicherte der Tote Chen, »ich werde bestimmt auf ihn aufpassen. Ich schlafe wenig, kleiner großer Bruder, Sie können beruhigt Ihre Runde machen, sollte noch einmal etwas sein, können Sie mich hart strafen, da werde ich kein Wort sagen.«
    Der Soldat gab keinen Ton von sich. Durch das

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