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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Gedanken gingen mir durch den Kopf. In verschiedenen Gebieten innerhalb und außerhalb der Gefängnisse war das Leben des Menschen vielleicht nichts als ein Brief, eine Notiz, du musst die Zeit beim Schopf packen und schreiben, um sicherzustellen, dass, wenn es dich nicht mehr, gibt, der Brief oder die Notiz noch da ist.
    Dabei fällt mir Zhang Hong ein, ich bin sicher, sie bewahrt bei sich noch meine Zettel auf. Als sie neunzehn wurde, hat sie mir einen Brief geschrieben, in dem es um Gedichte ging, das ist jetzt schon vierzehn Jahre her, in denen ich sie ganz ohne Grund nicht gesehen habe.
    »Wir sind wirklich gute Nachbarn, bei schönem Wetter schauen wir öfters beieinander vorbei, und dann wird endlos über Gott und die Welt geplaudert; und wenn wir faul sind, dann sehen wir uns ein paar Monate, ein halbes Jahr überhaupt nicht. Doch wenn wir uns dann wiedersehen, sind wir einander nicht fremd, wir haben immer noch etwas zu reden. Ich mache mir keine Gedanken, ob wir uns sehen können oder nicht, ich bete nur, dass wir uns dieses Gefühl der Vertrautheit bewahren können.«
    Später war die politische Lage unruhig, und wir haben etwa anderthalb Jahre nicht beieinander vorbeigeschaut. Die Nachbarschaft war sehr langweilig, und als sie weit weg aus Shangdong nach Sichuan und Chengdu direkt zu meiner alten Wohnung kam, traf sie niemanden an; also ging sie weiter nach Chongqing, wo sie vor der hohen Mauer mit dem Elektrodraht einen ganzen Nachmittag hin und her lief, nur um etwas über den Verbleib ihres alten Nachbarn zu erfahren.
    Am 25. August 1990 führte Regierung Tong nach dem Mittagessen den für das Rechnungsbuch verantwortlichen Rotfell an das hintere Fenster.
    »Ein junges Ding aus einer anderen Provinz schickt dir Geld, hier quittieren«, sagte Tong und händigte mir einen kurzen Brief aus: »Die blauen Berge sind beständig, lange fließt das Wasser grün, die Zeit wird kommen, da wir uns wiedersehn.«
    »Wir uns wiedersehn?« Ich schüttelte den Kopf mit einem bitteren Lachen. Auch sieben Jahre später ist mir nichts geblieben als ein bitteres Lachen und ein Kopfschütteln. Nach den Gefängnisregeln durfte man jeden Monat nur einen einzigen Brief schreiben, Länge eine Seite. Also blieb mir nichts anderes, als A Xia einzuschärfen, ihr für mich zu antworten.
    Zhang Hong hat in rasantem Tempo wieder »vorbeigeschaut«, sie sagte nicht ohne traurige Anmut: »Es kann doch nicht sein, dass wir ein Leben lang dazu verurteilt sind, uns nur auf diese Weise zu ›sehen‹!«
    Nach einem langen Seufzer faltete ich mit dem Fuß diesen unbezahlbaren Schatz zusammen (wie gewöhnlich trug ich wieder Handschellen, aber meine Füße waren mittlerweile so geschickt wie meine Hände). Es dauerte nicht lange, und ich bekam einen Brief von Liu Xia, sie hatte sich von Liu Bin scheiden lassen, und ihre Lebensumstände waren ein Grund zur Sorge. Ich schlug gegen die Gittertür und brüllte und heulte über zehn Minuten lang: »Meldung!«
    Schließlich bekam ich die Erlaubnis, außerhalb des Gefängnisses bestraft zu werden, und beantwortete danach den Brief. Dieses Gefühl der Eigensinnigkeit glich das Gefühl der Stille, mit der die Zeit verstrich, das Zhang Hong mir mitgegeben hatte, aus.
    An irgendeinem Tag nach Mittag öffnete sich der Tordurchgang des Knasts, und sämtliche Gefangenen marschierten im Gänsemarsch hinaus, immer den Zellenregierungen hinterher an den Fuß der großen Mauer am Rand des Gefängnisareals, dort bauten sich sich der Reihe nach auf zum Haareschneiden. Wie man mir erzählte, wurde eine Kopfrasur mit ein Yuan fünfzig bezuschusst, deshalb waren die diensthabenden Beamten alle bei der Party dabei. Das war der Welt spektakulärste Gesundheitsbewegung, die schwarze Masse der Gefangenen hockte auf einer Seite und zitterte vor Angst; ein gutes Dutzend Aufseher ging mit nacktem Oberkörper ans Werk, mit der gleichen Begeisterung, als würden sie Kürbisse und Gemüse schneiden.
    »Der Nächste!«
    Dieser Befehl war mal hier, mal da zu hören. Bis zur Mittagspause hatten sie über 160 brandneue kahle Kürbisse produziert.
    Der Meister im Haareschneiden, Regierung Ju, war ein Sauberkeitsfanatiker, deshalb stand er stets da, als habe er ein Lineal verschluckt, und hielt zu dem Kopf des räudigen Diebes, den er da vor dem Knie hatte, extrem vorsichtigen Abstand.
    »Ein Gefangener ist ein Königreich von Bakterien«, warnte er, woraufhin seine jungen Kollegen ihn sich zum Vorbild nahmen: die linke Hand

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