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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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in die Betonraster eingelegte Fenster war schwach eine schwankende dunkelrote Pfeife zu sehen. In der zweiten Hälfte der Nacht wurde ich noch einmal wach, sah über eine Ecke über dem Mauersims einen diesigen Mond ziehen, drei Todeskandidaten nahmen den Kleinen Toten mit seinen verwundeten Stirnseiten abwechselnd in den Arm. Von fern war der sorgenschwere Schritt des Wachsoldaten zu hören, er verweilte eine Weile im Schatten des Mondes, woraufhin sich die Himmelstreppe bis auf seine Schultern verlängerte.
    »Sie würden gern die Zeit anhalten«, es war eine vage Vermutung von mir, »ob wir schlafen, ob wir wachen, wir brauchen gute Träume.«
    Am Morgen danach wurden dem Kleinen Toten Fesseln angelegt, er wurde zu seiner Verhandlung abgeführt, noch mit den Spuren seiner Träume im Gesicht. Niemand hätte diesem Bündel aus Haut und Knochen den skrupellosen Räuber angesehen, der eigentlich keine Gnade verdiente.
    »Erst jetzt, wo ich bald sterben muss, habe ich ein paar gute Tage«, stöhnte er, »ich muss mir keine Sorgen machen um mein Essen und was ich anziehe, und es gibt so viele Menschen, die mich mögen; anders als draußen, da hat es nicht mal zum Tagelöhner gereicht, wenn ich essen wollte, musste ich stehlen.«
    »Der Kleine Tote hat zugelegt«, übertrieb der Vorsitzende Chen lachend, er war ein anständiger Kerl, »er hat sogar Farbe im Gesicht! Als er damals in die Zelle kam, hat er vor Hunger kaum stehen können, er musste sich bei jedem Schritt an der Wand festhalten.«
    »Du hast ihm sofort etwas anzuziehen und drei Portionen Fleisch gegeben, er hat alles in einem Atemzug weggeputzt, Resultat: er hat Dünnpfiff gekriegt«, spann der Blasse Magister mit ernstem Gesicht den Gedanken weiter.
    »Was man ihm nachsehen muss«, das Lachen des Vorsitzenden Chen wurde noch strahlender, »der Kleine Tote ist von nördlich vom Yangzi hierher verlegt worden, in den Zellen dort fressen sie nichts als Bohnentrester, das gibt man sonst nur den Schweinen, den Leuten ist ständig schwindlig, und sie sehen Sterne.«
    »Du erinnerst dich aber sehr genau«, lachte der Tote Chen.
    »Natürlich erinnere ich mich genau, wenn der Kleine Tote ein bisschen zugelegt hat, dann ist das doch auch mein Verdienst!«
    »Das erzählst du jetzt schon zum sechsten Mal, wie die Alte im ›Neujahrsopfer‹ von Lu Xun«, wandte sich ihm auf einmal der Tote Chen zu, »verdammte Scheiße, geht dir das nicht langsam selber auf den Wecker?«
    Der Vorsitzende Chen schaute dumm aus der Wäsche, kaute eine Weile daran herum und brüllte dann: »Und wenn ich es zum siebten Mal erzähle, na und?! Frag den Kleinen Toten doch selbst, ob ich ihn in irgendeinem Punkt enttäuscht habe!«
    »Du bist ein Tierzüchter, du fütterst die Schweine«, gab ich meinen Senf dazu, »jetzt drängeln sich die Schweine an der Futterkrippe.«
    »Ich bin also ein Schwein, ein gemästetes Schwein, und muss jetzt geschlachtet werden, ja?! Ihr Konterrevolutionäre habt keine Herz!«, schrie der Kleine Tote mit schriller Stimme.
    Der Vorsitzende Chen zitterte vor Wut.
    »Hier hast du deine Klamotten, dein Bettzeug, deine Schuhe wieder!« Der Kleine Tote warf weinend die Sachen auf den Boden, ich hob sie eine nach der anderen für den Vorsitzenden Chen auf, das Geschrei in meinen Ohren erinnerte an die Kampfkritikversammlungen während der Kulturrevolution.
     
    In den ersten Herbsttagen wurde durch die Gefängnislautsprecher bekanntgegeben, dass wir in den nächsten Tagen beginnen würden, unseren Lebensunterhalt mit unserer Hände Arbeit zu verdienen. Dabei wurde wiederholt die Arbeitsdisziplin betont und die Bestrafungs- und Belohnungsmaßnahmen und die Befehle, die man sich in einer festgesetzten Frist merken musste. Von diesem Zeitpunkt an hat die tägliche mehr als zwölfstündige Zwangsarbeit nicht mehr aufgehört.
    Dröhnend gingen die elektrischen Gittertüren auf, jede Zelle schickte drei Leute aus zum Gütertransport, sie liefen etliche Male hin und her, die über einen Mann hohen Kartons stapelten sich im Korridor wie eine neue chinesische Mauer. Der Durchgang wurde immer enger. Schließlich kam die Zellenregierung bis an die Zähne bewaffnet in die Zelle und hielt uns einen Vortrag, die Kerle standen stramm wie eine Eins, auf dem Kang saßen sie sogar stramm. Der Wachsoldat vom ersten Stock stand entgegen seiner sonstigen Lässigkeit breitbeinig mit der Mündung nach unten da wie ein amerikanischer GI im Film.
    »Feiertag im Knast«, sagte der Vorsitzende

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