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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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waren für den Augenblick vorbei.
     
    Ende August kam jemand von der Staatsanwaltschaft zu einem brutalen Verhör. Ich hielt es nicht mehr aus und stritt mit ihnen herum, dass es rauschte. Mein Raubtiermut war das Resultat meines intensiven Studiums der Strafprozessordnung, ich redete schon im Fachjargon der Beamten: »Man muss sich mit den Waffen des Gesetzes schützen.«
    Ich schäumte vor Wut, als ich in die Zelle zurückkam. Als die anderen das mitbekamen, setzten sie sich um mich herum und gingen in allen Einzelheiten alles mit mir durch. Der Tote Chen fragte, wer der Staatsanwalt ist.
    Ich antwortete: »Ding Jian.«
    Der Tote Chen fragte weiter: »Schreibt er sich mit dem Schriftzeichen ›Jian‹, das ›Schwert‹ bedeutet?«
    Ich nickte.
    Der Tote Chen saß ehrfürchtig und aufrecht da, räusperte sich und sagte wie ein Richter, der ein Urteil verkündet: »Fünfzehn Jahre.«
    Ich ging mit den Händen um meinen Kopf in die Knie, als hätte ich einen Schlag auf den Kopf bekommen.
    »Unter den Händen von Ding Jian haben nicht gerade wenige ihr Leben gelassen, bei leichten Fällen taucht der gar nicht erst auf.«
    Mir brach vor Entsetzen der kalte Schweiß aus.
    »Du hast sechs Mitangeklagte, dazu kommen noch zwei andere Fälle, das macht zusammen acht. Wenn man von unten anfängt, wird er zwei Jahre fordern und sich dann langsam bis zu dir steigern, also bekommst du mindestens fünfzehn Jahre.«
    Der Blasse Magister fügte hinzu: »Und das ist eine Schätzung des Toten Chen, die man als konservativ bezeichnen muss.«
    »Aber laut Strafrecht kann Konterrevolution für die ›Verbreitung von Aufruhr‹ höchstens fünf bis zehn Jahre bekommen«, widersprach der Vorsitzende Chen, »von sechs Angeklagten bekommt der Hauptangeklagte sieben Jahre.«
    »Ja, und dann kommen noch die ›Bestimmungen zur Bestrafung konterrevolutionärer Umtriebe‹ dazu, die in ihrer Art besonders streng sind, das kann bis lebenslänglich gehen.« Die Stimme des Toten Chen klang düster, beinahe wie bei einem juristischen Experten.
    »Der Fall von 099 liegt nach dem 4. Juni 89, außerdem hat er die Fernsehausrüstung der Armee benutzt.«
    Aus den anderen brach es heraus, sie applaudierten und riefen: »Klasse Urteil!«
    Als Indizienbeweis sagte der Kleine Schwarze Teufel: »Was den Fall von 099 noch weiter nach oben drückt, ist, dass es eine Gruppe von ein paar Dutzend Leuten betrifft.«
    Wieder war die Meute begeistert, als wäre das Ganze ein besonderer Festtag. Der Lärm alarmierte die Wachsoldaten im ersten Stock, die sofort durchluden, und der diensthabende Regierung Yu Großkerl kam, den Elektroknüppel im Anschlag, angelaufen.
    »Wir geben 099 sein Strafmaß«, machte der Tote Chen stramm und wahrheitsgemäß Meldung.
    »Wie langweilig!«, brüllte der alte Yu.
    »Jawoll! Langweilig!«, gab der Tote Chen zurück.
    Yu stampfte auf: »Wer hat gesagt, dass du das Maul aufmachen sollst? Keine Ordnung, streck den Kopf herüber!«
    Der Tote Chen legte seinen Kopf ergeben gegen das hintere Fenster, Yu stach mit dem Elektroknüppel durch das Gitter und brannte ihm vom Hinterkopf bis zu den Schultern und dem Rücken eins über.
    Unwillkürlich fing das Fett des Bestraften an zu zittern. Als Yu Großkerl weg war, war es in der Zelle totenstill. Der Tote Chen war im ganzen Gesicht rot wie in Sojasauce eingelegt. Wie ein Betrunkener hing er eine halbe Ewigkeit schlaff in der Ecke, dann ließ er es sich gefallen, dass ihm jemand sein durchnässtes Unterhemd auszog.
    »Gut gegen Erkältung, das.«
    Mit diesen Worten lächelte er uns an, doch aus der Kerbe in seiner Stirn sprühte ein nicht mehr menschlicher Zorn.
    Bevor ich am Abend einschlief, flüsterte mir der Vorsitzende Chen ins Ohr: »Wir machen Spaß mit dir.«
    »Grausames Vergnügen«, ich nahm es mir immer noch zu Herzen, »fünfzehn Jahre, dann ist mein Leben zerstört!«
    »Die Fälle von unserem Blassen Magister und von unserem Schwarzen Teufel sind sehr schwer, sie hätten gern, dass sie dich auch ein wenig härter rannehmen …«
    »Was hat das mit ihnen zu tun, ob ich eine schwere oder eine leichte Strafe bekomme?«
    »Wenn man verzweifelt ist, sucht man nach einem Ausgleich, die Hälfte der Leute hier drin wartet auf den Tod.«
    Ein düsterer Wind legte sich um meinen Hals, wie ein Strick, und stach mir ins Gehirn. Ich spürte intuitiv eine latente Krise. Eigentlich war der Tote Chen verstopft, er hockte auf dem Abtritt, das Gesicht grün vor Deprimiertheit. Der

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