Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
Vom Netzwerk:
Gewissen, Barmherzigkeit und andere verlockende Worte von den Gesetzen der Ideologie übertüncht.
    Die Voraussetzung des Opfers, von dem Brodsky überzeugt war, wird von der typisch chinesischen Apathie aufgelöst – hack du nur dein Holz, kein Mensch wird dich aufhalten. Wer die Regeln verletzt, wird bestraft, und wenn du 24 Stunden schuftest (und dich zu Tode schuftest), das ist deine Sache.
     
    Der Sanfte Liu, der für unsere Zelle zuständige Regierung, sah einem Dichter ähnlicher als ich, er war melancholisch, weltverdrossen, vergesslich, hatte eine hochentwickelte Vorstellungskraft, weshalb auch seine Verwaltungsarbeit die obengenannten herausragenden Merkmale zeigte. Wenn zum Beispiel ein Gefangener nach Herzenslust sang, konnte er ihm vom hinteren Fenster aus lächelnd zunicken: »Gut drauf heute, was?«
    Dann ging vorne die Tür auf, und er befahl ihm, herauszukommen und noch hundert Lieder zu singen. Das war ein beliebter Spaß unter den Gefängniswärtern, aber wie das Spielchen dann weiterging, das klang dann ganz anders: Er ließ dich den knisternden Elektroknüppel küssen: »Geistige Liebe ist eine Wonne, liebt der Kerl doch das Schwesterchen in seinem Lied – streck die Zunge raus!«
    Doch den Höhepunkt erreichte das Ganze erst im Folgenden: »Habe ich gesagt, du sollst den Kuss so genießen? Na, dann lassen wir mal das elektrische Schwesterchen hier deinen Rücken runterkrabbeln und an deinem Arschloch kratzen, pass auf, sie wird dir auch noch einen blasen, wäre das nicht geil? Brav, das Ding von diesem Schwesterchen ist noch gröber als deins.«
    Mit der Exzentrik und der Phantasie eines Dichters schuriegelte er die Gefangenen, er hatte zweifelsohne die Gewalt, jemanden zu brechen wie einen Strohhalm. Der Felldieb Wan Li, der von Wang Er bestimmt worden war, mit seinem Gehilfen Wan Jiale die Fernsehkanäle einzustellen, wurde auf frischer Tat ertappt. Der Sanfte Liu griff auf einen alten Trick zurück und ließ Wan Li am Elektroknüppel lecken – wie hätte er ahnen sollen, dass der Kerl sich an dem Ding festbeißen würde, als sei der Hochspannungsstrom eine besondere Delikatesse. Der Sanfte Liu machte ein langes Gesicht, rief fünf Rotfelle heran, die Wan Li bis auf die Haut auszogen und ihm Beine, Hände und Kopf auf die Erde drückten, wo er ihm dann eigenhändig mit zwei Knüppeln von oben nach unten ein paar Brandzeichen aufdrückte – aber wieder keine Reaktion erreichte.
    »Der Kerl ist gut isoliert«, sagte der Sanfte Liu und wischte sich den Schweiß ab, »da streichle ich ihn den halben Tag und bekomme nichts zurück!« Daraufhin nahm er eine Pferdehuffessel und sperrte zwei Diebe zusammen.
    So wurden im Gefängnis siamesische Zwillinge geboren: Vier Hände über Kreuz, essen, trinken, pinkeln, scheißen, aufstehen, setzen, schlafen, alles machten sie gemeinsam, einer trug die Schale zur Essensausgabe, vier Pratzen schlugen gleichzeitig gegen den Mund; einer ging scheißen, der andere war direkt gegenüber, selbst wenn er sich den Hintern abwischte, musste sein Partner sich mit bücken, eine Hand drängte sich von den Lenden Richtung After, weshalb Toilettenzwischenfälle wie Tatschen, Kriechen, Rollen und Schlagen an der Tagesordnung waren.
    Die beiden waren ein steter Quell der Heiterkeit, der uns die Langeweile vertrieb. Jeder konnte ihnen nach Lust und Laune in den Hintern treten, sie konnten nicht ausweichen, wenn sie sich nur zu hastig umdrehten, konnte es passieren, dass die beiden der Länge nach hinfielen. Am komischsten war, wenn sie in der Nacht urinierten. Als Erster stand auf, wer am meisten Druck hatte, auf dem Boden halblaut auf den anderen einredete, bis der verschämt nachrückte, sie dann wie eine Sänfte um die Ecke des Kang kurvten, gemeinsam zur Pissrinne hochstiegen, ihre Geräte herausholten und beide mit geschlossenen Augen zu schiffen anfingen, es dem jeweils anderen gegen die Unterschenkel plitscherte und sie mit feindseligen Blicken zu ihren Betten zurückkehrten.
    Eines Nachts bohrte sich, was es bis dahin nicht gegeben hatte, eine fette Maus mit weißem Fell in die Decke der beiden und machte sich an die stinkigen Füße von Wan Li heran. Der machte einen Satz, schrie vor Schmerz und zerrte seinen Schicksalsgenossen, der schlief wie ein Schwein, von seiner Bettstatt, wobei dessen Kopf gegen den Rand des Kang schlug, was einen gewaltigen Bums gab. Und Großmutter Maus schoss blindlings an das Ende des Flurs, wandte ihre altersschwachen Augen noch

Weitere Kostenlose Bücher