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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Er sagte verärgert: »Der räudige Hund kann sich nicht mal an der Wand festhalten!«
    Der kleine Wan Li, der kaum über zwanzig war, hatte in seinem Leben noch keinen offiziellen Posten gehabt, also nahm er sich wohl oder übel Wang Er zum Vorbild, um zu lernen, wie man sich im Amt benahm; er beobachtete ihn und ahmte ihn zwei Tage lang aus einer gewissen Entfernung nach und war mit dem Resultat sehr zufrieden.
    Wang Er lag den ganzen Tag in seinem Winterschlaf, und Wan Li hatte keinen Ort, an dem er hätte schlafen können, aber er hatte sich schnell die üble Angewohnheit zu eigen gemacht, zu ernten, ohne gesät zu haben. Er selbst faltete keine Tüten mehr, aber er drängte die anderen mit stierem Blick und geballten Fäusten, mehr zu machen. Und wer ihn nicht völlig zufriedenstellte, fing sich Prügel ein. Jedes Mal, wenn es Essen gab, ließ er die sieben Leute, die ihm unterstanden, mit großem Tamtam im Gänsemarsch hinausgehen und sich in der Mitte des Innenhofs das Essgeschirr im Kreis aufstellen.
    »Ich bin der Vater!«, sagte er täuschend echt im Tonfall von Wang Er, »du bist die Mutter. Du bist unser großer Junge, du bist der Zweitälteste, du der Drittälteste, du bist das Nesthäkchen. Unsere hier im Knast geborene Notfamilie muss auch ein wenig von der traditionellen Moral haben und die Alten ehren!«
    Die Kerle sahen einander wütend an.
    Wan Li sah darüber hinweg: »Euer Vater hat einen großen Magen, er muss drei Tabletts voll haben, die fünf, die übrig sind, könnt ihr unter euch teilen, aber ihr müsst eurer Mutter und dem Nesthäkchen ein bisschen mehr geben, auf Frauen muss man Rücksicht nehmen.«
    Wenn es alle paar Wochen etwas Besonderes zu essen gab, schob sich Wan Li die acht Fleischportionen alleine rein, wobei er die anderen auch noch im Stile von Wang Er ermahnte: »Verschluckt euch nicht an eurer Spucke, schaut doch einfach weg! Euer Vater ist schon 84, er wird nicht mehr lange etwas essen können, ihr seid noch jung, euer Weg ist noch weit, ihr habt später noch genug Gelegenheit, jede Menge zu essen und zu trinken!«
    »Bruder Wan, lass uns wenigstens zwei Bissen übrig!«, bettelte einer.
    Als Wan Li das hörte, ging ihm der Gaul durch, er hackte mit den Stäbchen wie mit einem Messer auf ihn ein: »Du wagst es! Ich bin dein Vater!«
    »Lass für Mutter ein wenig von der Ölsuppe«, schmeichelte ihm ein anderer, »du hast selbst gesagt, man muss Frauen mit Achtung behandeln.«
    »Dann trink hier die Kürbissuppe, Alte«, lachte Wan Li, »Kürbissuppe ist gut für die Milch, besser als die Ölbrühe.«
    Schließlich riss den Kerlen der Geduldsfaden, die »Alte« holte als Erster mit der Faust aus, mit einem Schlag lag der üble Despot auf dem Rücken und streckte alle viere zum Himmel. Glück für ihn, dass Wang Er rechtzeitig dazwischenging und die Rebellion unterdrückte.
    Wang Er zog Wan Li zur Seite und warnte: »Du bist wohl lebensmüde.«
    »Ich habe nur von Ihnen gelernt, Pate«, gab Wan Li mit ölverschmiertem Gesicht zurück.
    »Bei euch in der großen Familie sind nicht nur die Geschäfte, sondern auch der Magen groß«, spottete Wang Er, »soll ich dich Papa nennen?«
    »Zu groß wäre mir die Ehre«, lachte Wan Li töricht. Wang Er fixierte den Jungen unbarmherzig und wollte gerade in die Luft gehen, als sich sein Ärger auf einmal in einem Lachen löste: »Als Chef der Felldiebe machst du dich nicht schlecht!«
    Wan Li war ein Mörder, aber er hatte keinerlei Lebenserfahrung, er hatte sich mit einem Nachbarn um eine Briefmarke gezankt und dabei eine gefangen, woraufhin er mit einem Küchenmesser auf seinen Nachbarn losging. Es hieß, er habe dreiundzwanzigmal auf ihn eingestochen. Und damit nicht genug, hat er ihm auch noch das Haus angezündet. Und es war noch ein Glück, dass sein Ausraster in diesem Augenblick einen epileptischen Anfall auslöste.
    »Wenn es dich vor Gericht so durchschüttelt, dann bleibst du am Leben.« Das war ein Vorschlag, den wir ihm nach und nach alle machten. Und deshalb trainierte ihn Wang Er jeden Tag, Wut anzustauen und auszurasten, wobei er jedes Mal seine roten Augen so verdrehte, dass man nur noch das Weiße sah.
    Aber Wan Li wusste dieses Entgegenkommen nicht zu schätzen, er würde sicher Pech haben. Wang Er gab unserem alten Außenminister Bai und dem erst vor kurzem in den Knast gekommenen Räuber, der den Spitznamen Großer Drache hatte, mit den Augen einen Wink, die beiden zogen sofort ein aus Karton gebasteltes chinesisches

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