Für ein Lied und hundert Lieder
hatte die Augen ins Weiße verdreht und wälzte sich ein paar Minuten auf dem Boden herum, dann muhte er von tief drinnen einen übelriechenden Luftzug heraus, sein Körper entspannte sich, und die Krämpfe hörten allmählich auf.
Ich hielt mir die Nase zu und schaute mich im Kreis um, seufzte leise, um nur ja den Wachhabenden nicht aufzuschrecken. Doch von oben kam ein klebriger Schleim, der Wachsoldat hatte sich eigentlich die Nase mit den Fingern zugehalten und war auf Posten geblieben: »Das stinkt ja schlimmer als der Abtritt!«, maulte er.
Ich machte Meldung und bat um Hilfe.
»Keiner da«, gab der Wachsoldat zurück, »sind alle vor dem Gestank davongelaufen.«
Die Meute lachte schallend. Wang Er sagte mit weit aufgerissenen Augen: »In meinem Wörterbuch gibt es das Wort ›Meldung‹ nicht.«
Es dröhnte wie Donnerhall, ich kam mir eine Weile ganz klein vor. Die Meute machte mit der Arbeit weiter, Wang Er legte sich wieder schlafen, ich hatte nichts, dem ich nachgehen konnte, und hing einen Augenblick völlig in der Luft.
Wan Li setzte sich auf, schaute mit seinen toten Fischaugen verwirrt in die Runde, griff sich wie ein Traumwandler das bunte Packpapier und fing an, wie wild zu falten. Ich hatte ihm gerade abgeschaut, wie er es machte, als er rief: »Nicht!« Seine Gesichtszüge waren entgleist, als sei eine Katastrophe über ihn hereingebrochen.
Ich war in eine formlose Blut-und-Eisen-Ordnung geraten, nüchtern wurde mir bewusst, dass ich die Rolle, die Wang Er mir zugewiesen hatte, akzeptieren musste. Diese Schlange in ihrem Winterschlaf spitzte aus ihrer Höhle und reagierte – so, zwischen Raubmördern und Regierung aller Eigenständigkeit des Lebens beraubt, braucht es keiner Worte, um das Leben eines Politischen zu verstehen.
Ich versuchte, etwas ohne die kleine Gruppe von fünf Leuten zu machen, aber deren Mitglieder bewegten mich mit einer nie dagewesenen Herzlichkeit nachhaltig zum Bleiben; als ich sagte, ich würde mich lieber zu Tode arbeiten als so, brach die Meute in schallendes Gelächter aus. Der Außenminister Bai sagte zweifelnd: »Und du bist ein Politischer? Hast du nicht ›Die Naivität der Linken in der Kommunistischen Bewegung‹ vom Genossen Lenin gelesen?«
Der russische Dichter Brodsky war von der früheren Sowjetunion wegen »Schmarotzertum an der Gesellschaft« zu vier Jahren verurteilt worden, er hatte im Gefängnis die Bibel gelesen, am meisten bewegte ihn der Satz: »Wenn dir einer auf die linke Backe schlägt, halte ihm auch die rechte hin.«
Für Brodsky war das ein extremes Beispiel dafür, wie man durch Fügsamkeit die Gewalt zerstreut und ihr jeden Sinn nimmt.
Ein der Mahnung der Bibel entsprechendes realistisches Beispiel wäre, wenn ein Gefängniswärter einen schwere Sklavenarbeit verrichtenden Gefangenen zur Strafe wegen irgendeiner Verbotsverletzung drei Stunden lang Holz hacken ließe und die furchtbare Arbeitsmaschine von diesem Geist verhüllt mit einer übergewöhnlichen Beharrlichkeit daraus neun Stunden machen würde. Die letzte Szene wäre, dass der Gequälte das Gesetz des Handelns an sich reißt, sich am Limit der körperlichen Leidensfähigkeit einem Heiligen annähert und der Strafende, zwischen Verblüffung und namenlosem Entsetzen über die Nutzlosigkeit seines Gebrülls, die Arbeitsmaschine solle aufhören, am Ende gänzlich von körperlichen Züchtigungen Abstand nimmt.
Es war noch nicht lange her, dass Brodsky an einer akuten Herzkrankheit gestorben war, er starb in einer das Ich erweiternden erdichteten Konsequenz. In Wirklichkeit sind die Fügsamkeit von Religionsanhängern und der Widerstand von Revolutionären für beide Seiten von Nachteil. Brodskys verfrühter Tod war das Resultat einer langfristigen »Arbeitsüberlastung« (Gewalt gegen sich selbst), die Erinnerung und das Schreiben haben ständig den psychischen Druck auf ihn vergrößert. Als das Gefängnis längst einer fernen Vergangenheit angehörte, saß er immer noch im Knast und hielt unterbewusst dem »Feind« noch immer die rechte Wange hin: »Die Hand, die dich schlug, ist lang schon verfault/das brüllende Gebiss schweigt/erstarrt zur Schwärze der Nacht.«
Eine Tragödie, die wir nicht aufhören lassen, hüllt uns ein, hüllt die Literaten ein, die in den vielfältigen Formen der Diktatur an der Freiheit des Ausdrucks festhalten, und wenn Widerstand oder Fügsamkeit zur letzten aller Möglichkeiten wird, werden auch Moral und Gerechtigkeit, Martyrium, Ideale,
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