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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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hasst nichts so sehr wie die Demütigung seiner Persönlichkeit, du hast uns gerade dein Pimmelchen gezeigt, du hast seine Persönlichkeit verletzt, er wird bis in den Tod Widerstand leisten.«
    »Wangbadan! Hurensohn!«
    »Meinst du mich, Befreiungssoldat? Ich heiße wirklich Wang, Vorname Badan.«
    Das Wortgefecht war zu Ende, und Wang befahl der Meute, mich langsam aus der Decke herauszupellen, und schrie: »Wir verdienen unseren Ruf wirklich!«
    Ich riss den Mund weit auf, wie ein Ochsenfrosch, der aus einem Dämpfer kommt.
    Wang Er sagte: »Ich war mit Wan Xia zusammen in Untersuchungshaft, du bist stärker als er.«
    Eine warme Woge zog über meinen Kopf, ich hob das Gesicht und seufzte: »Stärke ist einen Scheiß wert, wenn man hier drin nicht verreckt, dann ist das nichts als Glück!«
    Am Nachmittag des nächsten Tages machte mir ein neuer Zuständiger, Regierung Liu Wenrou, die Fesseln ab. Dieser schlaffe Kettenraucher sagte mit einer femininen Sorgenstimme zu mir: »Mein auffälligstes Merkmal ist meine Faulheit, ihr müsst lernen, auf euch selbst aufzupassen, macht mir nur keinen Ärger!«
    Ich nickte.
    »Der Packen da, das sind alles deine Briefe«, sagte er und klopfte auf den Tisch, »aber ich darf dir nur einen geben, du bist schon ein paarmal bestraft worden, und das mit sehr wenig Erfolg, woran man sehen kann, dass Intellektuelle sich zu sehr in ihr geistiges Leben vertiefen und ihren Körper vernachlässigen, das ist eine individualistische Tendenz. Diesmal mache ich dir die Fesseln vor der Zeit ab und behalte einen Teil deiner Korrespondenz ein, das nenne ich: den Körper schonen und den Geist strafen.«
    Ich hielt einen einfachen Brief von zu Hause in den Fingern, kehrte mit hängendem Kopf in die Zelle zurück, wusch mir Gesicht und Hände und öffnete gelassen meinen Brief und las:
     
    Mein Junge, ich habe hin und her überlegt, mir fällt wirklich nichts ein, eigentlich ist mit einem Satz alles gesagt: Deine Mutter vermisst dich.
    Unter der Schreibtischlampe am Soundsovielten.
     
    Unersättlich schnalzte ich mit der Zunge und besah mir das Briefpapier von allen Seiten; ich nahm auch das Kuvert auseinander, aber ich entdeckte nichts weiter. Meine Augenränder brannten. Es gab Abendessen, ich rührte eine Weile achtlos darin herum, stellte es dann weg, zog den Brief wieder heraus und untersuchte ihn erneut. Wang Er sagte verwundert: »Was ist so gut, dass du da ein paar Stunden drin herumpulst?«
    Ich schaute ihn verwirrt an. Er nahm mir den Brief aus der Hand, las und meinte halblaut: »Kein Wunder, dass du ein Dichter bist. Wenn deine Mutter dich so liebt, hast du ihr sicher eine Menge Gedichte gewidmet, oder?«
    »Nicht ein einziges.«
    »Das glaube ich nicht. Bei Dichtern geht die Körpertemperatur in null Komma nix hoch, und dann die Mutter, ein Gedicht, großartig, und noch eins.«
    »Meine Mutter hat noch nie Gedichte gelesen«, sagte ich verärgert.
    »Aber«, Wang Er hob den Brief in die Luft und verkündete vor allen, »aber das ist doch das außergewöhnlichste Gedicht auf der Welt!«
    Ich musste lachen, das war der glücklichste Augenblick, seit ich im Gefängnis war, lobte doch so unerwartet jemand meine Mutter! Ich erinnerte mich, dass sie damals, als ich das Gedicht »Das große Becken« herausbrachte und eine Zeitlang berühmt war, sich so wie ich heute einen ganzen Nachmittag in den Text vergrub, hilflos vor den allzu langen, nicht interpunktierten Gedichtzeilen mehrmals tief durchatmete und las und las, bis sie schließlich genug hatte und Widerspruch anmeldete: »Mein Junge, willst du mit diesen ellenlangen Gedichten erreichen, dass deine alte Mutter ihren letzten Schnaufer tut?«
    Wang Er und ich waren vom Schicksal füreinander bestimmt, wir wurden Freunde, denn in dieser schwierigen Nacht hatten wir unser schlimmes Schicksal überwunden, es war die Mutterliebe, die uns läuterte.
    »Wer hat veranlasst, dass ich ausgerechnet in deinen Uterus komme?«, überlegte ich eingerollt in meinem Nest aus Decken, mir wurde gar nicht bewusst, dass das ein Gedicht war:
    Meine Verse waren dir stets zu lang
    und jetzt knüllt das Schicksal deinen Sohn
    in einen kurzen Satz
    an dem weiter gestrichen wird
    bis nichts mehr ist, nur noch Hülle
    Ein vergewaltigtes Wort, ohne Gesicht
    Bis auch kein Name mehr zählt
    bis ich nur noch ein Kurzzeichen bin
    falsch geschrieben meist wegen zu vieler Striche
    Ich bin alt geworden
    sehe älter aus als du
    doch komme ich heim eines Tages
    wird der

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